A dark forest

Bild von Rosie Fraser

Über Stock und Stein

Seine Geschichte begann mit einem gehetzten Blick nach hinten. Er wurde verfolgt. Schon jetzt war er völlig außer Atem, doch er nutzte die Angst in ihm als eine scheinbar unerschöpfliche Energiequelle. Er rannte immerhin um sein Leben. Vor seinen Augen tauchten immer wieder Bilder auf was passieren würde, wenn sie ihn erwischten. Wie in einem ewigen Kreislauf wurden diese Bilder in Angst umgewandelt, die ihm dann als eine Art Energie das Rennen ermöglichte. Seine Lunge brannte. Er spürte heftiges Stechen in seiner Seite und doch rannte er weiter hinweg über Äste und Baumstämme, immer weiter durch den dichten Wald. Sie waren ihm auf den Fersen, ab und zu konnte er in der Ferne ihre Rufe hören. Er hatte einen Vorsprung, doch der war vernachlässigbar klein. Die Dauer seiner Flucht kam ihm vor wie Stunden. Ihm war, als könnte er sich an sein vorheriges Leben überhaupt nicht mehr erinnern. Alle Erinnerungen an ein Leben in Ruhe waren von dieser tiefgründigen Angst verschluckt worden. Wie ein schwarzes Loch sog dieses Gefühl alles in sich auf und schuf einen Fokus auf das Wesentliche, ermöglichte ihm eine ungeahnte Mobilisierung seiner Kräfte. Er war selbst überrascht, wie lange er durchhalten konnte. Trotz der Strapazen, die er spürte, sagte ihm sein Kopf ständig, er solle weiterrennen. Nichts anderes schien von Bedeutung. Wieder und wieder sprang er über Baumstämme hinweg, wich größeren Felsen aus und durchbrach dichtes Gestrüpp. Irgendwann musste der Wald hier enden und er würde endlich Hilfe finden. Neben der Angst verspürte er plötzlich einen Funken Hoffnung. Sein Herz schien einen kleinen Hüpfer zu machen und die Anspannung seines Körpers ließ für einen winzigen Moment nach. Doch dieser kurze Lichtblick wurde sofort wieder von dem Sog der Angst verschlungen, sein Fokus auf das Rennen kehrte zurück und er verschwendete keine Gedanken an die Zukunft.

Er spürte, wie sein Körper schon immer auf diese Art des Rennens ausgerichtet war, alle biologischen Prozesse waren so angepasst, dass diese Mobilisierung der Kräfte in einem Notfall möglich war. Der Fluchtinstinkt war tief in ihn eingebrannt, von Generation zu Generation übertragen. Sein Körper war eine Fluchtmaschine, die nebenher noch Denken konnte. Diese Erkenntnis mischte der Angst noch etwas Wut hinzu. Seine Gefühlspalette nahm eine zornige Farbe an, Zorn über die Natur seines Körpers und über seine biologische Ausrichtung. Er verachtete diese Spezialisierung auf die Flucht. Statt all seine Kräfte in seinen Intellekt zu stecken, wurde er von der Natur dazu gezwungen, sich selbst auf das Weglaufen zu konzentrieren. Sein Körper wurde auf die Angst optimiert, wodurch der Intellekt eher in den Hintergrund geriet. Die Natur konnte mit dieser höheren Form des Denkens nur wenig anfangen. Stattdessen tunnelte sie alle seine Fähigkeiten in eine Angstreaktion, die ihm nun ironischerweise wahrscheinlich auch noch das Leben rettete. Die Wut über diese Fremdbestimmtheit gab ihm noch zusätzliche Energie und für einen kurzen Moment fragte er sich, ob nicht auch das von der Natur so gewollt war. Er fühlte sich hintergangen, meinte die Finte der Natur durchschaut zu haben. Doch im selben Moment hörte er hinter sich wieder die Rufe seiner Verfolger. Seine Gedanken wurden ins Nichts verbannt und seine Wut wich wieder der allumfassenden Angst, die er nun schon so gut kannte. Er rannte weiter, mittlerweile erschien es ihm so, als würde sich der Wald um ihn herum verändern. Er sah auf und konnte in der Ferne etwas helleres Licht sehen. Das Ende des Walds war zum Greifen nah. Jetzt galt es unter allen Umständen bis dorthin zu kommen. Er lauschte kurz nach seinen Verfolgern und warf noch einmal einen Blick nach hinten. Bis jetzt waren sie immer noch nicht zu sehen, sein Vorsprung war immer noch da. Das Stechen in seiner Brust war mittlerweile fast zur Normalität geworden, die leichte Benommenheit aufgrund des Sauerstoffmangels in seinem Kopf legte einen grauen Schleier über all seine Gefühle. Wie in Trance rannte er diesem leichten Lichtschimmer entgegen. Es waren Sonnenstrahlen, die die Dunkelheit des Waldes durchbrachen und die Umgebung noch surrealer darstellten. Nichts anderes zählte, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, nichts schien wichtiger als ein- und auszuatmen. Es fühlte sich an, als würde er über den Waldboden hinwegfliegen. Er spürte seine Beine nicht mehr, sondern nahm nur noch wahr, wie sich die Umgebung um ihn herum veränderte. Er verspürte nur noch Angst inmitten einer sich bewegenden Welt. Gerade als er wieder die Rufe seiner Verfolger wahrnahm, erreichte er endlich den Waldrand. Er ließ die Baumgrenze hinter sich und fand sich auf einem Feld wieder, das erst vor Kurzem von einem Bauern umgepflügt wurde. Gehetzt blickte er sich um und entdeckte in der Nähe eine kleine Siedlung. Das war seine Rettung. Die Leute dort würden ihn beschützen können! Er preschte los, sprang über den Feldgraben hinweg und richtete seinen Blick fokussiert auf das Dorf. Er würde es schaffen. Es war nur noch eine kleine Distanz, ein kleiner Weg, der über Leben und Tod entschied. Eine Entfernung, die darüber richtete, ob er seinen Intellekt noch weiterhin würde wahrnehmen können oder ob er sich von seinem Körper trennen musste.

Er warf wieder einen Blick nach hinten und suchte den Waldrand ab. Noch niemand war zu sehen. Hier im Freien würden sie in leicht entdecken können. Im Wald hatte er sich immer im Schutz der Bäume bewegt, jetzt war er seinen Verfolgern ganz und gar ausgeliefert. Die Todesangst, die wieder und wieder in ihm aufkeimte, war ihm nun schon ein vertrauter Bekannter. Doch beim Anblick des Dorfes wurde diese nun wieder durch den Hoffnungsschimmer ersetzt, den er schon öfter verspürt hatte. Diesmal wurde dieser aber immer stärker und nahm tatsächlich Form an. Seine Hoffnung galt den Menschen in diesem Dorf. Sie würden sein Leiden verstehen, würden ihm Schutz und ein Versteck bieten. Seine Hoffnung galt der Menschlichkeit, dem Verständnis der anderen menschlichen Wesen, die dieses Dorf ihr Zuhause nannten. Es war klein, aber in der Dorfmitte ragte ein kleiner Kirchturm hervor, der in der Sonne weiß glänzte. Es war ein wolkenloser Himmel, unter normalen Umständen hätte er die Freuden eines warmen Sommertags verspürt, doch seine inneren Gefühle waren ausgelastet und kümmerten sich nicht um das Wetter. Alles was zählte, war dieses Dorf zu erreichen. Der Hoffnungsschimmer regte Gedanken an seine Vergangenheit an. Bilder seiner Jugend und seiner Familie tauchten vor seinem inneren Auge auf. Was würden sie sagen, wenn sie ihn in seinem jetzigen Zustand sehen würden? Er sah seine Frau und seine Kinder. Was würde er nicht geben, um wieder bei ihnen zu sein. Bei den Gedanken an dieses friedvolle, aber vergangene Leben kam wieder eine Wut in ihm auf. Es war eine Wut über die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Welt, über den Zeitstrahl, der durch ein ständiges Voranschreiten die Welt immer und immer wieder auf den Kopf drehte und den menschlichen Wesen, die in diese Welt hineingeworfen wurden, keine Zeit zum Verschnaufen gab. Er war wütend auf sich selbst, dass er es nicht geschafft hatte, dieser Situation auszuweichen und wütend, dass es seine Verfolger gab, die sich seinen Tod als Ziel gesetzt hatten. Seine Gedanken wanderten von der Vergangenheit in die Zukunft, die Wut wurde durch eine traurige Resignation ersetzt. Nichts würde mehr so werden wie früher, sein Leben hatte sich grundlegend verändert und würde vielleicht nie mehr wieder auf die geraden Bahnen geraten, auf denen es früher so angenehm dahinfloss. Stattdessen würde er von den Erinnerungen an diesen Tag geplagt werden. Nun, da er wusste, welche Ängste ein Mensch erleiden konnte, wie sollte er da noch in der Lage sein, ein normales Leben zu führen?

Sein Gedankengang wurde jäh durch das Zurückkehren eines heftigen Stechens in seiner Brust unterbrochen. Wie ein Stromstoß durchfuhr der Schmerz seinen Körper und zerriss die Sorgen über die Zukunft in tausend winzig kleine Stücke. Sein Fokus kehrte zurück auf das Dorf, das er nun schon fast erreicht hatte. Er sah die weißen Wände der Häuser, hörte die Rufe und das Lachen der Bewohner. Mit einem Blick hinter sich sah er wieder den bedrohlichen Wald. Aus dem Schutz der Bäume hatten sich nun seine Verfolger herausbewegt, die ihm über das Feld hinweg nachsetzten. Sie hatten ihn gesehen, waren ihm wie zuvor mit ungeahnter Bestimmtheit auf den Fersen. Bei ihrem Anblick erreichte seine Angst eine neue Stufe. Zuerst überkamen ihn Hitzeschauer. Schweiß rann seinen Körper hinab und er spürte, wie mehrere Schübe von Adrenalin jede Faser seines Körpers zum Arbeiten anregten. Sein Hals schnürte sich zu, er musste sich konzentrieren, um überhaupt noch Luft zu bekommen. Er wollte weinen, wollte die Anspannung irgendwie abbauen und seiner Verzweiflung freien Platz einräumen, doch sein Körper war dazu überhaupt nicht mehr in der Lage. Er war immer noch auf das Fliehen optimiert, war von der Angst besessen und konnte nichts anderes tun, als seinen biologischen Fluchtinstinkten bis auf die letzte Sekunde seines Lebens zu gehorchen. Doch genau diese biologische Maschine war es nun, die ihn weitertrug, die ihn an den Häusern des Dorfs vorbeilaufen und schließlich auf dem Marktplatz ankommen ließ. Sein Hoffnungsschimmer wurde zu einem richtigen Sturm, als er andere Menschen erblickte, die sich auf dem Platz angeregt unterhielten. Er rannte ihnen entgegen, versuchte sie durch Winken schon jetzt auf sich aufmerksam zu machen. Er erhielt keine Reaktion und versuchte es mit lauten Rufen. Zuerst brachte er nur ein heiseres Krächzen hervor, doch dann nahmen seine Stimmbänder die Arbeit auf und erzeugten Schreie. Doch die Menschen auf dem Platz schienen unbeeindruckt. Er war jetzt nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Es war eine Gruppe von Menschen die gemütlich an einem Tisch saßen und gerade auf ihr Essen warteten. Völlig außer Atem kam er bei ihnen an und warf sich vor ihrem Tisch auf den Boden. Die Welt um ihn herum drehte sich, kurzzeitig hatte er das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Nach einigen flachen Atemzügen bekam er jedoch zumindest wieder Luft. Sein Sehvermögen setzte wieder ein und er starrte ungläubig auf die Menschen, die über ihm immer noch am Tisch saßen und sich weiter unterhielten. Sie hatten ihn überhaupt nicht wahrgenommen. Er wollte sie noch einmal ansprechen, doch sein Körper verbot ihm jegliche Aktion. Seine Kraftreserven waren zu Ende, der Hoffnungsschimmer hatte die Angst als die scheinbar unendliche Energieressource abgelöst und gab seinem Körper nun das Gefühl, es geschafft zu haben. Seine Gedanken erzählten dabei jedoch eine andere Geschichte. Die Menschen über ihm sahen ihn nicht. Er fühlte sich wie in einem Traum, hatte keinerlei Erklärung dafür, was hier vor sich ging. Er war allerdings auch kaum in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, alles in seinem Kopf waberte rasend schnell hin und her. Die Menschen über ihm lachten und unterhielten sich angeregt, dem völlig erschöpften und leidenden Elend neben ihrem Tisch schenkten sie jedoch keinerlei Beachtung. Sie konnten ihn tatsächlich nicht sehen. Auch wenn der Grund dafür ihm noch immer völlig schleierhaft war, spürte er nun, dass etwas Grundsätzliches in dieser Welt nicht stimmte.

Sein Hoffnungsschimmer wurde von der bitteren Erkenntnis verschlungen, dass er keine Hilfe erwarten konnte. Inmitten all dieser Menschen war er einzig und allein auf sich allein gestellt. Diese Erkenntnis überflutete ihn mit einem Gefühl der Einsamkeit. Seine Hilfeschreie verwandelten sich in wildes Schluchzen, sein Unglauben über die Reaktion der Menschen in tiefe Resignation. Er war allein und würde es auch immer bleiben. Er konnte sich nicht auf andere Menschen verlassen, alles, was er hatte, war seine eigene biologische Maschine, die nun beinahe an ihrem Limit angekommen war. Er wartete auf das Zurückkommen der Angst, wartete darauf neue Kraft schöpfen zu können. Das Gefühl der Resignation, das seinen Körper nun antrieb, war schlicht, aber doch so mächtig, alle anderen Gefühle in sich aufzusaugen. Es war diese Resignation, die ihn sein Leiden vergessen ließ, die seinen Intellekt scheinbar aus seinem Körper heraushob und ihn diesen nur noch als eine schlichte Hülle betrachten ließ. Es war das Wissen seiner Einsamkeit, das ihm erlaubte, sich wieder aufzurichten. Er fühlte nichts mehr, seine Emotionen versiegten und ließen ihn völlig taub zurück. In dieser Gefühllosigkeit richtete er sich auf und streckte sich. Er bewegte seinen Kopf hin und her, testete diese externe Hülle seines Selbst und bereitete sie auf die kommenden Minuten vor. Seine Wahrnehmung der Resignation änderte sich, aus der Taubheit wurde eine eigenartige Bestimmtheit, als ob er auf einmal genau wusste, was zu tun war. Langsam wurde er wieder eins, seine Gedanken schienen sich wieder in seinem Kopf zu befinden und das Gefühl einer Zielgerichtetheit überkam ihn. Alles ergab plötzlich einen Sinn, die Puzzleteile der Welt um ihn herum fügten sich aus irgendeinem Grund gerade jetzt zusammen. Das Gefühl der Bestimmung ging einher mit einer bisher unbekannten Kraft durch Mut. Alle Schmerzen, alle Strapazen schienen vergessen, was zählte, war einzig und allein der aktuelle Augenblick. Er war allein auf dieser Welt, aber er würde es auch allein schaffen. Er würde nicht aufgeben, sondern mit dem, was er hatte weitermachen, er würde sich selbst verteidigen, komme da was wolle. Er ballte die Fäuste, stellte sich aufrecht hin und formte seine Stimmbänder erneut zu einem Schrei. Diesmal war es jedoch kein Angstschrei oder Hilfeschrei. Vielmehr war es ein Schrei, in den er all diese neugewonnene Kraft legte. Es war eine Botschaft an die Welt, dass er nicht aufgeben würde. Er schrie all sein Leiden und seinen Mut in die Welt hinaus, legte all seine Strapazen in diesen einen Laut, der die ganze Welt um ihn herum in Schwingung versetzte. Gerade als seine Verfolger den Platz betraten, spürte er hinter sich Bewegung. Er senkte den Kopf und spürte eine Hand auf seiner Schulter. Diesen Schrei hatten sie gehört. Mit einem Blick nach hinten erkannte er seine Verbündeten. In seiner dunkelsten Stunde kamen ihm diese Menschen letztendlich doch zur Hilfe. Ihr Lachen war einem ernsten Schweigen gewichen und in ihren Gesichtern sah er Verständnis und Mitgefühl. In Reih und Glied standen sie nun da und warteten, bis seine Verfolger ihn erreichten. Er hob seine Fäuste. Mit der ungeheuren Kraft des Mutes, der Hoffnung und des Zusammenhalts ging er an die Arbeit.