Bild von Alex Knight
Facettenreiches Leben?
Ihre Geschichte begann mit einer Fahrt durch die Stadt. Besser gesagt, einem bestimmten Teil der Stadt. Wieder einmal hatte sie dieses Gefühl gehabt, das sie dazu drängte, hierher zu fahren. Ohne Orte wie diesen hier zu kennen und die Menschen zu sehen, fühlte sie sich unvollständig, sie fühlte sich, als ob ihr ein wichtiger Teil des Lebens entgangen wäre. Das Gefühl, das sie zu diesem Ort drängte, war eine Art Neugier, gemischt mit Unglauben, dass es Orte wie diesen tatsächlich gab. Doch als sie nun durch die Straße fuhr, konnte sie die Menschen mit eigenen Augen sehen. Die meisten standen in kleinen Gruppen am Straßenrand, andere lagen in dunklen Ecken, in ihrer ganz eigenen Traumwelt. Wer waren diese Menschen? Warum waren sie hier, was war mit ihnen geschehen und was hatten sie erlebt? Ihr Gefühl drängte sie nicht nur dazu, diesen Ort aufzusuchen, vielmehr wollte sie die Leute hier kennenlernen, wollte verstehen, warum ihr Leben sie hierhergebracht hatte. Für sie war es eine Art Parallelwelt, so weit von ihrer eigenen entfernt, dass sie überhaupt nicht verstehen konnte, wie diese überhaupt existierte. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, empfand sie eine erdrückende Ehrfurcht vor der Komplexität dieser Welt. Wie viele Facetten musste das Leben für verschiedene Menschen parat halten, ohne dass man jemals etwas davon mitbekam? Wie viele Erlebnisse hatten diese Leute hier, die sie selbst niemals verstehen würde?
Wie gewohnt war die Straße auch voller Polizei. Die Stadt versuchte die Situation verständlicherweise unter Kontrolle zu bringen, war die letzten Jahre allerdings kläglich gescheitert. Die Zahl der Drogenopfer war immer noch ansteigend, die präventiven Maßnahmen der Stadtverwaltung halfen also nicht wirklich. Zudem waren Teile der Straße wohlbesuchte Bordelle, in denen oft auch Menschen aus der gesellschaftlichen Oberschicht zu finden waren, die ihre eigenen Interessen am Fortbestand dieses Orts hatten. Es waren paradoxe Bilder, wenn diese beiden Welten aufeinandertrafen, wenn man die Anzugträger inmitten all dieses Leids und Elends erblickte und sie die Menschen dann auch noch für Geld zu ihrem Vergnügen ausnutzten. Diese abschreckenden Bilder veränderten jedoch nichts an ihrem Gefühl, diesen Ort kennen zu wollen, sie wollte wissen, was hier passierte, denn sonst fühlte sie sich unvollständig. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass ihr Leben in einer kleinen, behüteten Blase ablief, die mit vielen anderen solcher Blasen durch die gigantischen Ausmaße der möglichen Lebenswege glitt. Sie sah nur einen winzigen Teil von dem, was auf der Welt tatsächlich passierte, erlebte nur einen Bruchteil der erfahrbaren Gefühle, erlernte Inseln des Wissens inmitten des Ozeans der Unsicherheit. Wie funktionierte das Leben tatsächlich? Was passierte um sie herum, das sie nicht einmal für möglich gehalten hätte? Wie viele Orte wie diesen gab es und was fühlten die Menschen hier? Waren es andere Gefühle, als sie selbst jemals haben würde? War sie überhaupt in der Lage zu verstehen, was hier passierte? Es waren immerhin Menschen wie sie, sollte es da einen großen Unterschied geben, was diese biologisch gleichen Wesen mit ihrem Verstand erleben konnten? Wie komplex war ihre eigene Gefühlswelt wirklich? Hatte sie tatsächlich tiefe Gefühle oder wurde sie von sich selbst und ihrer Umgebung eher betäubt? Während sie weiter durch die Straße fuhr, kam eine Angst in ihr hoch. Es war die Angst, nicht tief genug in sich selbst zu graben, die Angst, ein zu oberflächliches Leben zu führen, das die wahren Facetten der Welt nur minimal ankratzte. Wie konnte sie behaupten, gelebt zu haben, wenn sie nur einen winzigen Teil der tatsächlich existierenden Gefühle mitbekommen hatte? Was war sie für ein Mensch, wenn sie niemals die volle Breitseite des Lebens erfahren hatte?
Sie hatte Angst, etwas zu verpassen, ein lächerliches Leben zu führen, das andere überhaupt nicht als solches bezeichnen würden. Doch während sie weiter durch die Straße fuhr und die zerstörten Menschen in den Seitenstraßen liegen sah, wandelte sich ihre Angst in ein schlechtes Gewissen. Wer war sie, dass sie diese Straße mit all ihrem Leid und Elend wie eine Touristin besuchte und sich nur Gedanken über ihr eigenes Leben machte? Wer war sie, ihre Neugier an den Menschen hier offen auszuleben, während diese in ihrem eigenen Dreck lagen und Tag für Tag versuchten zu überleben? Sie fühlte sich schlecht, eine Übelkeit stieg in ihr auf, sie wollte diese Straße nur noch verlassen. Sie wollte diesen unbekannten Facetten des Lebens entfliehen und stattdessen in ihre kleine Blase, ihr kleines Zuhause der Gefühle zurückkehren. Die Komplexität dieser Welt konnte ihr gestohlen bleiben, sie wollte sie nicht wahrhaben. Ihr eigenes Leben stellte sich oft genug auf den Kopf, sie brauchte nicht auch noch zu wissen, wie es anderen Leuten erging. Sie drückte aufs Gas und verließ die Straße über eine Kreuzung. Es war nur dieser bestimmte Stadtteil, die andere Seite der Kreuzung sah wieder völlig anders aus, gesittet so wie sie es kannte. Wie aus einer Traumwelt kam sie wieder zu sich und vergrub ihr schlechtes Gewissen in Nachdenklichkeit. Immer wieder übte diese Straße eine Faszination auf sie aus. Immer wieder tauchte der Gedanke der Komplexität in ihrem Kopf auf. Wie viel von der Welt würde sie in ihrem Leben tatsächlich sehen? Wie tief würde sie mit ihren Gedanken vorstoßen können? Gab es Menschen, die das Leben und ihre Umgebung auf eine völlig andere, eine viel tiefere Art und Weise wahrnahmen? Was müsste sie tun, um tiefer zu kommen? Wie konnte sie es schaffen, den Vorhang des Lebens zu zerreißen, um die Abgründe dahinter genauer zu erkunden? Eine Art Spannung erfasste sie, die Neugier, die sie in diese Straße getrieben hatte, kehrte nun zurück, gab ihr den Ansporn, in die tiefen Wogen ihrer eigenen Gedanken einzutauchen und zu versuchen, das Leben an sich zu begreifen. Doch was, wenn es diese Tiefen gar nicht gab? Was, wenn die Oberfläche, an der sie zu kratzen dachte, in Wirklichkeit alles war, was es gab? Vielleicht hatte sie mit ihrem Leben schon alles gesehen, vielleicht gab es kein breiteres Spektrum der Gefühle, als sie gerade in diesem Moment durchlebte. Die Neugier und die Lust auf mehr warfen sich in den Kampf gegen die rückkehrende Angst, die Angst, schon alles zu kennen und ein seichtes, aber vollständiges Leben zu führen. Sie atmete tief ein und aus. Sie streckte den Kopf etwas in Richtung Fenster, spürte die kraftvolle Sonne auf ihrer Haut und den kalten Wind im Gesicht. Während die Gefühle in ihrem Inneren übereinander herfielen, schlich sich heimlich eine unscheinbare Gewissheit in ihre Gedankenwelt. Es war ein tiefes Wissen über die eigenen Möglichkeiten. Sie würde nicht zulassen, dass das, was sie nun erlebt hatte, alles war. Sie würde entscheiden, wann sie alles gesehen hatte was es zu sehen gab. Nichts würde ihrer Neugier und ihrer Abenteuerlust eine Grenze setzen. Das Leben bestimmte nicht sie, es war vielmehr andersherum. Sie definierte ihr eigenes Leben, ihr Denken und ihre Gefühlswelt. Und ganz sicher gab es erst nichts mehr zu entdecken, wenn sie damit einverstanden war, wenn sie sich dazu bereit erklärte, endlich Ruhe zu geben. Solange sie aber diese tiefe Neugier empfand, würde sie weiter graben und die Schluchten und Höhen des Lebens ganz nach ihren Vorstellungen formen. Der Kampf in ihrem Inneren beruhigte sich, es kehrte Ruhe ein und sie wurde von der nun immer stärker werdenden Gewissheit geradezu durchströmt. Sie hatte die Kontrolle und sie allein konnte bestimmen, wie es weiter ging. Voller Vorfreude auf die baldigen Abenteuer und neuen Entdeckungen lehnte sie sich zurück und lächelte. Es gab viel zu tun.