Bild von Andrey Grinkevich
Der Schmerz der Freiheit
Ihre Geschichte begann mit einem Weitblick. Wieder einmal hatte sie den Hügel am Rande der Stadt erklommen und blickte nun über das Meer von Dächern bis zu der großen Bergkette am Horizont. Dort, weit in der Ferne, stauten sich die Wolken an den Bergen und bildeten riesige Türme, die das Gebirge noch viel größer machten, als es eigentlich war. Sie setzte sich auf ihre Lieblingsbank und musste etwas durchschnaufen. Sie war fit, doch der Anstieg des Hügels war dennoch immer wieder eine Anstrengung. Nun saß sie inmitten von Wacholderbüschen in einem frei geschnittenen Bereich und genoss den Ausblick. Es war Abend, der Himmel färbte sich schon etwas rot und kündigte den Sonnenuntergang an. Es war ein normaler Wochentag, Menschen hatte sie auf ihrem Weg nach oben nur sehr wenige getroffen. Die meisten waren wahrscheinlich gerade auf dem Heimweg von der Arbeit. Sie hatte heute einen freien Tag. Neben ihrer normalen Arbeit ging sie einem Teilzeitstudium nach und dafür hatte sie sich am heutigen Tag für eine nahende Prüfung vorbereitet. Jetzt hatte sie nach all dem Lernen eine kurze Auszeit gebraucht und sich deshalb entschieden, ihrem Lieblingsplatz hier oben wieder einmal einen Besuch abzustatten. Wie immer lohnte es sich. Die Luft war angenehm kühl, ihre dünne Jacke hielt sie immer noch perfekt warm. Sie war außerdem noch aufgeheizt vom Anstieg, wenn die Sonne aber nun unterging, würde es noch sehr viel kälter werden. Zu lange würde sie hier also nicht sitzen können.
Entspannt lehnte sie sich zurück und atmete tief ein und aus. Sie lauschte den Vögeln, die sich in dem kleinen Waldstück hinter ihr lautstark auf die Nacht vorbereiteten. Aus der Richtung der Stadt hörte sie die üblichen Verkehrsgeräusche. Eine Kirchenglocke verkündete den Anfang einer neuen Stunde. Sie blickte auf und versuchte den zugehörigen Kirchturm zu finden. Es war eine recht große Stadt, insgesamt gab es vier oder fünf Kirchen, eine davon größer als die andere. Die Stadt war umringt von einer langen Umgehungsstraße und wies an manchen Stellen am Rand noch immer Überreste einer alten Stadtmauer auf. In einem Teil der Stadt ragten kleinere Hochhäuser in den Himmel, es war der Geschäftsbezirk, der der Stadt ein sehr modernes Aussehen verlieh. Doch in der Umgebung der Stadtmauer spürte man noch immer den kulturellen Charme der Stadt. Dort gab es kleine Gassen mit vielen heimeligen Geschäften und Restaurants. Ein kleiner Bachlauf wertete das Bild der Altstadt noch zusätzlich auf. Um die Stadt herum zog sich ein langes Straßennetz, eine neue Art von Mauer, die nun aber keine Feinde mehr abwehrte, sondern vielmehr Mobilität ermöglichte.
Dort unten rasten Hunderte von Autos über den Asphalt hinweg, die Menschen waren auf dem Weg nach Hause. Sie stellte sich vor, was diese Menschen wohl für einen Tag erlebt hatten. Wie viele von ihnen hatten wohl gerade gute Laune? Wie viele hatten einen erfolgreichen Arbeitstag hinter sich, an dem sie ihre Tagesziele besonders gut erreicht hatten oder vielleicht andere Leute erfolgreich unterstützen konnten? Wie viele Leute waren aber auch am Boden zerstört, da der heutige Tag überhaupt nicht in ihren Plan gepasst hatte? Wie viele Leute fürchteten sich vor dem kommenden Morgen, wünschten sich gerade jetzt, dass die Sonne niemals untergehen würde? Wie viele Menschen saßen aber gerade auch da unten in ihren Autos und freuten sich, nach Hause zu ihren Familien zu kommen? Wie viele von ihnen konnten es kaum erwarten, ihren Partner und ihre Kinder wieder zu sehen und wie viele wollten ihren Familien lieber entkommen? Sie konnte sich die Gefühle der Menschen dort unten gut vorstellen. Viel zu oft erlebte sie dieses breite Spektrum an Ängsten, Sorgen und Hoffnungen am eigenen Leib, viel zu oft wurde sie vom Leben bis an den Rand ihrer Kräfte getrieben, um sich dann gleich im nächsten Moment mit Luftsprüngen auf den nächsten Tag zu freuen. Während sie sich die Menschen dort unten vorstellte, spürte sie eine warme Zuneigung. Es war, als würde sie jeden Einzelnen dieser völlig fremden Menschen kennen. Sie mochte sie alle, sie verspürte sogar eine Art Liebe gegenüber diesen Menschen. Es war eine bedingungslose Liebe für die Wesen ihrer Art. Von ihrem eigenen Leben und ihrer persönlichen inneren Gefühlswelt wusste sie, was die Menschen dort unten durchmachten und welche Täler und Höhen sie auf ihrem Weg durch das Leben überwinden mussten. Sie verspürte plötzlich eine so starke Zuneigung, dass sie sie am liebsten alle umarmt hätte. All diese Menschen, die dort unten Leid und Hoffnung verspürten, waren genau in der gleichen Situation wie sie selbst. Hineingeworfen in eine kalte und harte Welt versuchten sie das Beste daraus zu machen. Dem manchmal sehr grausamen Leben ausgesetzt hörten diese Menschen nie auf, sich diesem Kampf entgegenzustellen, sie konnten ja auch gar nicht anders. Stattdessen versuchten sie ihr Leben durch kleine Verschönerungen zu verbessern. Durch eine schöne Wohnung und eine glückliche Familie konnten sie die Bürde des alltäglichen Lebens wenigstens für eine Zeit lang vergessen. All diese Menschen dort unten zeigten unterschiedliche Persönlichkeiten und Charakterzüge. Manche ließen sich einfach vom Leben treiben, andere hatten hingegen klare Ziele. Manche hatten viel Geld und versuchten ihren Status dementsprechend hervorzuheben, andere kämpften mit finanziellen Schwierigkeiten und hatten hauptsächlich das Überleben im Kopf. Jeder der Menschen dort unten hatte eine ganz eigene Geschichte. Es waren einzigartige Erfahrungen, die die Menschen zu dem machten, was sie waren. Sie wünschte sich all diese Geschichten zu hören. Sie wollte mit diesen Menschen reden, ihnen zeigen, dass sich jemand für ihre Geschichte interessierte. Ganz egal wer der Mensch war, sie wollte ihn oder sie ganz genau verstehen, ihre persönliche Gedankenwelt durchdringen und all die dort versteckten Ängste, Sorgen und Hoffnungen selbst verspüren. Sie wollte ihr Leben mit all diesen Menschen dort unten teilen.
Doch dann tauchten plötzlich andere Bilder in ihrem Kopf auf. Es waren Erinnerungen an Menschen, die sich selbst verstellten. Immer wenn sie mit anderen Menschen redete, ging es fast ausschließlich um oberflächliche Gespräche, fast niemand erlaubte auch nur den geringsten Einblick in die eigene Gedankenwelt. Stattdessen war jeder damit beschäftigt, sich auf diesem oberflächlichen Niveau zu bekämpfen. Die meisten versuchten auf irgendeine Art und Weise besser dazustehen als das Gegenüber, die eigene Einzigartigkeit wurde unter einem Maßstab des Vergleichs hingerichtet und durch eine scheinbar objektive Gleichheit ersetzt. Jeder versuchte so zu sein, wie die Gesellschaft es vorgab. Jeder versuchte verzweifelt Anerkennung zu erhaschen, versuchte von den Menschen im Umkreis gemocht zu werden. Die eigenen Ängste, Sorgen und Hoffnungen wurden auf die eine Angst reduziert, mit all diesen Gefühlen allein zu sein. Jeder wünschte sich verständnisvolle Mitmenschen, doch keiner ließ es zu. Stattdessen ertränkten sich die Menschen in ihren Alltagsgesprächen in denen nichts von ihrer eigentlichen Einzigartigkeit zu erkennen war. Die Wege auf denen die Menschen versuchten Anerkennung zu bekommen waren ganz unterschiedlich, manche versuchten es durch Bildung, andere durch Geld und Reichtum. Wieder andere versuchten außergewöhnlichen Sportarten nachzugehen und manche schlossen sich bestimmten Menschengruppen an, die ihre Identität scheinbar zufriedenstellend wiedergaben.
All die persönlichen Gefühle wurden also versteckt unter einem Deckmantel der Suche nach Wertschätzung. Die Menschen versuchten verzweifelt von anderen gemocht zu werden und gaben damit sogar ihre eigenen Persönlichkeiten auf. Ihre Liebe zu den Menschen dort unten im Tal verwandelte sich nun in eine Art Abneigung, eine Abneigung gegen diese verzweifelte Suche. Die Schönheit der Menschen dort unten verschwand aufgrund ihres fehlenden Selbstwertgefühls, nur deshalb mussten sie nach anderer Wertschätzung suchen. Ein fehlendes Selbstwertgefühl war vernichtend für die eigene Einzigartigkeit, die Menschen, die nach externer Wertschätzung suchten, glichen sich immer mehr aneinander an und versteckten ihre Einzigartigkeit unter dem Schleier der Gleichheit. Sie wollte den Menschen Mut machen, doch je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie auf die Menschen. Aus ihrem Mangel an Selbstwertgefühl beugten sie sich gesellschaftlichen Normen und hörten auf, selbst zu denken. Sie folgten anderen Menschen blind und stürzten ihre Umgebung damit in ein Gleichgewicht. Niemand hinterfragte die Regeln, denen alle folgten, stattdessen marschierten sie wie Lemminge alle in dieselbe Richtung, in Richtung ihrer eigenen Zerstörung. Je länger sie ihre eigene Einzigartigkeit verleugneten, desto mehr zerstörten sie eben diesen Kern. Sie spürte eine Art Wut gegen diese Eigenart der Menschen, eine Wut gegen deren Hilflosigkeit und fremdgesteuerten Bedürfnisse. Dieses erregende Gefühl, das sie tief in sich verspürte, war allerdings nicht direkt gegen die Menschen gerichtet. Vielmehr galt es der Struktur der Welt selbst oder eher der Struktur des menschlichen Denkens. Sie verspürte einen Zorn gegen die Funktionsweise des Gehirns und gegenüber ihrer eigenen Hilflosigkeit, diese zu ändern. Die Menschen, die sie dort unten sah, kamen ihr vor wie wundervolle Blumen, die dann durch Dornensträucher aus ihrer Umgebung ummantelt und schließlich vollkommen verschluckt wurden. Nur mit viel Glück wurden diese Dornen irgendwann wieder entfernt, aber sobald das passierte, blühten die Blumen schöner als je zuvor. Wenn die Menschen aus ihrem Gefängnis des Selbsthasses ausbrachen, eröffnete sich ihnen eine ganz neue Welt, eine, die allerdings vielleicht sogar härter war als ihr tristes Leben in dem von außen auferlegten Gefängnis. Nach einem Ausbruch stolperten die Menschen durch eine Welt, die so groß und deshalb so bedrohlich wirkte, dass sich viele wieder in das behutsam scheinende Dornengefängnis zurückwünschten. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Leid, das ein Entfernen der Dornen mit sich brachte, sie sah den Schmerz, den die freien Menschen verspürten und ihre Angst vor ihrem zukünftigen Leben. Ihr Zorn gegen die Dornen verwandelte sich nun wieder zurück. Es war eine ständige Metamorphose der Gefühle, eine Schwankung zwischen Liebe und Hass. Denn genau diese freien Menschen waren es nun, denen sie ihre unbedingte Liebe schenken wollte. Das Leid, das diese Menschen erfuhren, wollte sie mit ihnen teilen. Sie wollte mit ihnen zusammen weinen, trauern und ihre Sorgen teilen. Denn nur durch diesen gemeinsamen Zusammenhalt, nur durch den gemeinsamen Widerstand gegen die Grausamkeit dieser freien Welt ließ sich ein solches Leben ertragen. Und nicht nur wurde es dadurch ertragbar, gerade der Wechsel zwischen den Sorgen vor der Zukunft und der Überforderung gemischt mit der gegenseitigen Liebe machten dieses Leben dann umso mehr lebenswert. Es war die Mischung aus Angst und Zuneigung, aus Sorgen und Hoffnung, die ein freies Leben wertvoller machten als alles zuvor. Es war die Gewissheit über den Zusammenhalt und die Gewissheit über die Unterstützung durch andere, die den freien Menschen die Kraft gaben, einen Schritt nach den anderem zu vollziehen.
Doch während sich dieser Wechsel aus Angst und Zuneigung sich in ihr selbst vollzog, kam ihr plötzlich ein neuer, dunkler Gedanke. Was wäre, wenn man als Einziger aus dem Dornengestrüpp befreit wurde? Was, wenn man gar niemanden hätte, mit dem man die Sorgen und die ersten Schritte in dieser großen, bedrohlichen Welt machen könnte? Der Gedanke durchfuhr sie wie ein Blitz, sie verspürte eine unbeschreibliche Einsamkeit, die jegliches Leben in ihr verschlang. Sie fühlte sich innerlich tot, gelähmt von der Angst vor dieser unendlichen Einsamkeit. Sie wollte den Gedanken totschlagen, wollte ihm entkommen und einfach nicht mehr daran denken, doch alles, was sie sah, war eine triste freie Welt in der man dem Schmerz und der Angst vor der Zukunft ganz allein ausgesetzt war. Sie sah die Dornensträucher um sich herum, ein Meer von braunen, verblichenen, aber scharfen und bedrohlichen Spitzen, die allesamt eine wertvolle Fracht versteckten. Und dann wusste sie plötzlich, was zu tun war, die innere Leere wich einer Bestimmtheit und einem klaren Ziel, das einen feurigen Eifer in ihr entfachte. Sie war immerhin frei, sie konnte sich bewegen und konnte sich ihrer Angst entgegenstellen. Sie konnte kämpfen und würde sich diese Freiheit nicht nehmen lassen. Die Angst vor der Zukunft und die Sorgen im Angesicht der unendlichen Weiten wichen einem Kampfgeist, der sie die Dornen um sie herum zertreten ließ. Sie riss die Sträucher weg, bahnte sich einen Weg durch das scheinbar nie endende Gestrüpp. Und dann, schon viel schneller als gedacht erblickte sie eine kleine Lichtung der Sträucher. Schon bald sah sie das bunte Blitzen, das sich wie eine Sammlung Edelsteine von der Umgebung hervorhob. Sie entdeckte andere Blumen, bemerkte die Freiheit anderer. Und noch viel mehr verspürte sie ihre eigene Kraft. Sie war in der Lage, ganze Dornenbüsche auszureißen, konnte jedes Gestrüpp um sie herum schnell entfernen. Und sehr schnell erkannte sie auch hier das bunte Blitzen, das sich unter jedem dieser Sträucher verbarg. Ihre Angst und das Gefühl der Einsamkeit wich nun vollständig einem Gefühl der Vorfreude. Sie hatte es selbst in der Hand, sich ihre Begleiter zu suchen oder zu befreien. Sie war in der Lage, ihr Schicksal vollständig selbst zu bestimmen. Die Liebe und die Zuneigung, vor deren Absenz sie sich in dieser kalten Welt so sehr gefürchtet hatte, waren keine von außen gegebenen Größen, es waren vielmehr Möglichkeiten, die sie durch ihre eigene Freiheit und Stärke nun umsetzen konnte. Ein Gefühl der Erleichterung und Spannung durchströmte sie. Sie würde diese triste Welt der Dornen in ein buntes Meer der Freiheit verwandeln. Mit diesem Gedanken wurde sie von der erneut schlagenden Kirchenuhr in die Realität zurückgeholt. Sie öffnete die Augen, wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und sprang auf. Sie hatte viel zu tun. Voller Vorfreude auf die kommenden Herausforderungen und strebend nach dem Leben in Freiheit machte sie sich an die Arbeit.