Bild von Sushobhan Badhai.
Der Schlag ins Gesicht
Seine Geschichte begann mit einem Schlag ins Gesicht. Ein virtueller Schlag in Form einer E-Mail, die seine Träumereien ein weiteres Mal wie Glas zerbersten ließ. Die E-Mail war in dem üblich freundlichen Ton geschrieben und beteuerte wie immer die Schwierigkeit der Entscheidung. „Zum jetzigen Zeitpunkt ist es uns aber leider nicht möglich, Sie in unserem Unternehmen einzustellen.“ Dieser einfache Satz ließ ihn in seinem Stuhl zusammensinken und fegte seine freudige Erwartung ins Nichts. Zurück blieb die übliche Bitterkeit vor der er sich mittlerweile schon fast fürchtete und die den sonnigen Tag auf einmal sehr grau erscheinen ließ. Die E-Mail endete mit den bekannten Phrasen, dass man sich von dem Ergebnis der Entscheidung nicht beeinflussen lassen sollte. Man kann es noch mal probieren stand da in einer Art und Weise, als ob Zeit keine Rolle spielte. Während sich das Trübsal wie eine Flut in seinem ganzen Körper ausbreitete versank er immer weiter in seinem Stuhl und starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm. Fast fühlte er sich als werde er ein Teil des Mobiliars. Ein kaltes Stück Material, zu nichts anderem fähig als zur puren Existenz. Was war er mehr als ein Stück Holz, das einfach irgendwo stand und meist nicht weiter beachtet wurde? Was war er mehr als ein Möbelstück, das man einfach entsorgte, sobald es gewisse Gebrauchsspuren aufwies und das ersetzt wurde durch einen neuen, glänzenden Stuhl oder Schrank, der jegliche Erinnerungen an den vorherigen auslöschte? Schwarz auf weiß zeigte sein Bildschirm eine Nachricht, die seinen Wert in dieser Welt ein weiteres Mal in den Dreck zog. Nur wenige Sätze, ohne jegliche Persönlichkeit von einer Vorlage hineinkopiert, waren in der Lage, sein Lebensgefühl auf einen harten Kern zu reduzieren. Dieser harte Kern war das Resultat von Dutzenden virtuellen Schlägen ins Gesicht, war das Produkt von zahlreichen Phrasen, die auf immer andere Weise betonten, was er selbst wie nichts auf der Welt fürchtete: Er war nicht gut genug.
Diese eine Information brannte sich durch seine Gedanken und breitete sich wie ein Feuersturm in seinem ganzen Körper aus. Er war nicht gut genug für diese Gruppe von Menschen, die er so bewunderte und von dessen Mitgliedschaft er beinahe jede Nacht geträumt hatte. Er war nicht gut genug, um den Ansprüchen dieser Gruppe gerecht zu werden, hatte nicht die entsprechenden Fähigkeiten, um ihnen seinen wahren Wert richtig zeigen zu können. Er hatte sich nicht genügend bemüht, um ihnen einen Grund für seine Teilnahme zu geben. Er hätte das Feuer dieser Erkenntnis stoppen können, wenn er denn gewusst hätte, dass es tatsächlich an seinem Ansporn lag. Er hätte mit Begeisterung daran gearbeitet, seine Fähigkeiten weiter zu verbessern und den Ansprüchen dieser Gruppe gerecht zu werden, wäre bereit gewesen, alle Zeit der Welt für nur dieses eine Ziel zu opfern. Aber es lag nicht an seinem Ehrgeiz, es lag nicht an seiner Begeisterung für die Sache und es lag auch nicht an seiner Überzeugung, in diese Gruppe integriert werden zu wollen. Der Grund dieser Ablehnung lag tiefer. Der Ursprung des nicht gut genug Seins lag an einem Ort, den er nicht erreichen und vor allem nicht verändern konnte. Es lag an seinen Eigenschaften selbst, an seinen biologischen Veranlagungen. Es lag im Kern seiner Persönlichkeit, der Grund seines Versagens war er selbst. Es war sein Mangel an Intelligenz, seine missgebildete Auffassungsgabe und sein viel zu langsames Denken. Der Grund der Ablehnung lag in der Struktur seiner Gedanken, seiner Fähigkeit zu abstrahieren und in seinem grundlegenden Verständnis von neuen Ideen und Ansichten. Der Ursprung des nicht gut genug Seins lag unerreichbar im Kern seines Selbst. In einem Kern, der sich über Jahre hinweg durch sein Umfeld und vor allem auch durch seine biologischen Veranlagungen gebildet hatte und sein Leben unveränderlich bis zu seinem Tod bestimmen würde. Es war der Kern seines Versagens, ein wackliges Fundament, auf dem er auch mit noch so großer Begeisterung kein standhaftes Haus würde bauen können. Er war nicht intelligent genug. Er war zu langsam im Denken, konnte sich nicht richtig konzentrieren. Er hatte nicht die Gabe des Verstehens. Jedes noch so kleine Stück neuen Wissens musste er sich hart erarbeiten, während es anderen federleicht entgegenflog. Während er mit Schweiß und Tränen für neue Fähigkeiten schuftete, tauchten andere schmunzelnd in die Wogen des Verstehens und kamen mit scheinbar tiefem Verständnis wieder heraus. Sie waren gut genug. Diejenigen, die neues Wissen wie ein Schwamm in sich aufsogen, trafen die Erwartungen seiner erträumten Mitgliedschaft. Diese Tatsache entsprang jedoch keiner ungleichen Anstrengung oder Begeisterung. Sie war schlicht und einfach die Folge ungleicher Veranlagungen und biologischer Prozesse. Die einen waren gesegnet mit einem ausgezeichneten Verstand, die anderen mussten sich diesen hart erarbeiten. Den einen blieben die virtuellen Schläge ins Gesicht erspart, die anderen fanden sich regelmäßig im Dreck liegend wieder und mussten sich zahlreiche Male wieder mühsam aufrichten und weiterkämpfen. Diese Ungerechtigkeit, diese Ungleichheit konnte nicht verändert werden. Sie war tief verwurzelt mit dem Prozess des Lebens selbst, war eingeprägt in das Leben eines jeden Menschen dieser Welt. Er war nicht gut genug. Er hatte nicht die Möglichkeit, sein Ziel zu erfüllen, war rein biologisch von dem Ausleben seines Traums getrennt. Sein gegebener Körper und Geist sperrten ihn in ein Gefängnis, aus dem er sich niemals würde befreien können. Es war ein Gefängnis des Versagens, eine Zelle der Mangelhaftigkeit, aus der es kein Entkommen gab.
Der Feuersturm in seinem Körper hatte ihn innerlich ausgebrannt, hatte jegliches Leben in ihm zerstört und hatte sein gesamtes Denken auf die eine Erkenntnis reduziert: Sein Traum war für ihn unerreichbar. Es war ein zerfetzender Gedanke, eine Erkenntnis, die seinen Atem einstellte und ihn für einige Momente sterben ließ. Er sank weiter in sich zusammen, war ein Häufchen Elend in einer kalten Welt von Grausamkeit. Doch während sich die Welt um ihn herum vor Schmerzen krümmte, spürte er etwas. Es war eine Hand auf seiner Schulter, eine Stimme in der Dunkelheit. Es war ein Streichen über seinen Kopf und der warme Atem an seinem Ohr. Es war warme Haut an seinem Gesicht und Küsse auf seinem Hals. Es waren beruhigende Worte, die die Tränen aus seinen Augen trieben und seinen Körper wieder aufleben ließen. Es war ein Same, der inmitten einer ausgebrannten Welt aus dem Boden hervorstieß und dem Leben in ihm neue Hoffnung einflößte. Jedes Wort und jede Berührung heilte die Wunden der Grausamkeit und fegte die Asche seines Inneren ins Nichts. Es war der Auslöser einer Flut von Kampfgeist, die sich in seinem gesamten Körper ausbreitete. Er würde sich seinem biologischen Gefängnis nicht beugen. Er würde seine kleine Zelle in Stücke sprengen und sich aus den Fängen des Versagens befreien. Er würde sich seinem Schicksal widersetzen, würde sich von der Natur keine Vorschriften machen lassen und würde seine Zukunft ganz selbst bestimmen. Sein Inneres wurde reanimiert, es war Elektrizität, die durch seinen Körper schoss und ihn bis in die kleinsten Teilchen wiederaufrichtete. Es waren die Tränen, die seine Ängste wegwuschen und es war das Schluchzen, das die Stimmen des Versagens übertönte. Langsam richtete er sich wieder auf, spürte den harten Stuhl unter sich. Er war kein bloßes Möbelstück, das man einfach so gegen ein anderes austauschte. Er war ein einzigartiges Kunstwerk, das man überall sichtbar aufstellte und das man bis in alle Details bewundern konnte. Er war kein Gefangener eines schicksalhaften Gefängnisses, sondern ein freier Mensch mit einem einzigartigen Körper und Geist. Er fand die Lücke in der Mauer seiner Zelle und durchbrach die Wand. Er sah das Licht des hellen Tages, fühlte den Sonnenschein in seinem Gesicht und spürte die Wogen der Hoffnung in sich aufschaukeln. Er war gut genug. Die Entscheidung über das Erreichen seiner Ziele und über das Ausleben seiner Träume lag allein bei ihm. Er war der Verantwortliche seines Selbst und er würde diese Verantwortung nicht an irgendwelche anderen Leute übertragen. Entscheidungen über die Qualität seiner eigenen Fähigkeiten lagen allein bei ihm, niemand anderes auf der Welt hatte das Recht darüber ein Urteil zu treffen. Es war sein Leben und es war seine Persönlichkeit. Er war der Töpfer seines Selbst, der Schreiner seiner eigenen Fantasien und der Programmierer seiner Gedanken. Er war gut genug für sich selbst, hatte alle Qualitäten, die er für sein Leben benötigte. Er allein entschied, wann seine Ziele erreicht wurden und wann nicht. Er allein entschied, wann sein Streben enden würde und wann sein Wunsch nach Verbesserung erfüllt war. Sein Leben lag in seiner Hand und er würde es nicht wieder loslassen. Er saß nun kerzengerade in seinem Stuhl, hatte die Sonne eines klaren Tages im Gesicht und spürte die Kraft in jedem Muskel seines Körpers. Ein weiteres Mal richtete er seinen Blick auf den Bildschirm, sah die Nachricht schwarz auf weiß. Doch nun war es ein einzelnes Symbol, das den Bildschirm frei machte von dem Schwarz und Weiß des Versagens. Es war ein einzelnes Symbol, das seine Aufmerksamkeit einnahm. Mit einem einzigen Klick verschwand die Nachricht für immer. Sie wurde aus seiner Erinnerung gelöscht, der Feuersturm wich einer neuen Vegetation, die sich rasend schnell ausbreitete. Das Feuer hinterließ einen noch fruchtbareren Boden als zuvor, machte Platz für neue Gedanken und Ideen, Platz für neue Begeisterung und Hoffnung. Die Wogen des Versagens verwandelten sich in Wellen des Ansporns. Es waren tosende Walzen des Strebens, die ihn nun immer näher an das Erreichen seiner Träume hintrieben. Niemals würde er sich von jemand anderem verurteilen lassen. Niemals würde er in der kalten, engen Zelle seines Selbst verbleiben. Er war gut genug. Gut genug für das Erreichen seiner Ziele und das ständige Streben nach Verbesserung. Er sprang vom Stuhl auf, klappte den Laptop zu und ging an die Arbeit.