A treasure chest

Bild von Jouwen Wang

Der Schatz im Inneren

Ihre Geschichte begann mit einer einfachen Melodie. Sie hatte sie schon lange Zeit nicht mehr gehört und war nun zufällig im Internet darauf gestoßen. Schon als sie den Titel der Melodie entdeckte und anklickte, hatte sie ein schwer zu beschreibendes Gefühl. Ihr Herz machte einen Sprung, eine gewisse Wohligkeit breitete sich in ihrem Körper aus und gleichzeitig spürte sie, wie sich ihr Hals zuschnürte. Die Melodie fing einfach an, sog ihre gesamte Aufmerksamkeit jedoch sofort in sich auf. Es war, als ob ihre innersten Gefühle im Takt der Melodie mitschwangen, es waren Talfahrten, gefolgt von absoluten Hochgefühlen. Während sich die Melodie entfaltete und sich in Musik verwandelte, wurde sie von langsam aufkeimenden Erinnerungen begleitet. Es waren Erinnerungen aus einer scheinbar längst vergangenen Zeit. Aus einer Zeit, in der das Leben noch lebenswert war, einer Zeit, die die Worte von Glück und Unbefangenheit geradezu definierte. Die Erinnerungen zeigten Bilder von Orten und Personen, die hinter einer Wand der Trübsal noch immer auf sie warteten. Sie spürte, wie sich der Kloß in ihrem Hals vergrößerte. Sie schluckte ein paar Mal und atmete tief durch, während die Musik weiter in ihren Ohren klang. Es war ein ständiger Wechsel zwischen der Gegenwart und dem Sog der Vergangenheit, einem befreienden Gefühl und einer Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten. Sie konnte nicht einmal genau sagen, ob ihre Erinnerungen überhaupt der Wirklichkeit entsprachen. Vielleicht waren sie eine reine Einbildung ihres Selbst, vielleicht waren sie ein Wunschdenken, das rein durch die Musik in ihr ausgelöst wurde. Gab es diese Welt ihrer Erinnerung überhaupt? Gab es diese Zeit des Glücks, des sorgenfreien Lebens und der scheinbar endlosen Ruhe? Während die Musik langsam auf den Höhepunkt zusteuerte, verwandelten sich ihre Erinnerungen in eine unbestimmte Angst. Eine Angst, dass die Szenen ihrer Gedanken nie Wirklichkeit waren und dass sie auch niemals Wirklichkeit werden würden. Es war eine Angst vor dem Ertrinken in der kalten Welt des alltäglichen Lebens. Wieder versuchte sie tief durchzuatmen und bemühte sich die wilden Wogen ihres Inneren zu glätten. Immer wieder schossen die Bilder wie Blitze durch ihren Kopf, manche begleitet von einem scharfen Stechen, anderer hingegen von einem Gefühl des Glücks und der Freude. Gerade als die Musik ihren Höhepunkt erreichte, brach etwas aus ihr heraus. Sie konnte es nicht mehr kontrollieren und ließ den Tränen ihrer Vergangenheit oder Zukunft freien Lauf. Ihr kräftiges Schlucken verwandelte sich in ein Schluchzen und begleitet von der fortwährenden Musik vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Sie wurde übermannt von einem Gefühl der Einsamkeit und gleichzeitig von einem Hoffen auf mehr. Sie wurde überrollt von einer Sehnsucht, die sie in dieser Stärke bisher noch nicht gekannt hatte. Es war für kurze Zeit so, als ob sie nie wieder fröhlich werden würde, als ob jegliche Freuden ihrer Gegenwart nur ein lächerlicher Schutz vor der kalten Wahrheit waren. Und gleichzeitig rief die Musik eine Wohligkeit hervor, die mit ihrer Erinnerung übereinstimmte. Das Gemisch der Gefühle wurde ergänzt durch die Zutat der Angst, die sie immer wieder dazu trieb, die Bilder ihres inneren Auges infrage zu stellen. Diese Angst, ein unheimliches Gefühl, dass die Sehnsucht, die sie verspürte, niemals erfüllt werden könnte. Schluchzend und mit tränenden Augen saß sie da und lauschte weiter der Musik, die ihren Höhepunkt überschritten hatte und nun wieder langsam abflaute. Und während die Musik sich nun wieder in eine Melodie verwandelte, wurde sie auf einmal von immer deutlicheren Bildern begleitet. Plötzlich wurde die Wand der Trübsal von glasklaren Erinnerungen durchbrochen, in denen nichts Schlimmes, nichts Grausames zu finden war. Dieser eine Teil der Melodie löste einen Wandel ihrer Gefühle aus, das Schluchzen stoppte, der Kloß in ihrem Hals verschwand und zurückblieb einzig und allein ein Gefühl der wohligen Erinnerung. An der Echtheit der Bilder konnte sie nun nicht mehr zweifeln, sie waren die Quelle einer unbändigen Energie, die ihren ganzen Körper durchfuhr. Es war der Ursprung einer Hoffnung, dass diese unbändige Sehnsucht, die sie verspürte, doch noch irgendwann erfüllt werden würde. Einer Hoffnung auf mehr, auf mehr Leben, mehr Freude und mehr Glück. Sie schloss die Augen und genoss die Ruhe nach dem Sturm. Das Schluchzen wurde ersetzt durch ein freudiges Glucksen, ein Lachen über sich selbst. Ihre Trauer wurde ersetzt durch einen Unglauben, sie war überrascht, wie sehr die Melodie sie tatsächlich überrumpelt hatte. Sie genoss die klaren Bilder ihrer Erinnerung, schöpfte neue Kraft und fühlte sich nun stärker als je zuvor. Während sich die Melodie ihrem Ende näherte, gab sie den Erinnerungen einen Platz tief in ihrem Herzen. Wie schon Dutzende Male zuvor würde sie diesen Schatz von Bildern und Gefühlen wieder an dem ursprünglichen Ort verstauen und darauf warten, bis sie wieder etwas entdeckte, was ihn von seinem Platz hervorbrachte. Die Musik hatte sie daran erinnert, dass es tief in ihrem Inneren eine unbändige Kraft des Glücks und der Freude gab, die sie zur richtigen Zeit und am richtigen Ort hervorrufen konnte. Wieder atmete sie mehrere Male tief ein und aus und empfand ihre Gedankenwelt auf einmal als eine wohlige Leere. Sie bemerkte nicht einmal, wie die Melodie stoppte, sondern saß einfach da, spürte nichts, dachte nichts, hörte nichts. Einige Zeit lang verharrte sie in ihrer Position, dann erwachte sie aus diesem Zustand wie ein Schmetterling sich aus den Hüllen seiner Verpuppung befreit. Sie richtete sich auf, wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und ging mit einem leichten Lächeln auf den Lippen wieder an die Arbeit.