Bild von Jeremy Perkins.
Der endliche Kreislauf
Seine Geschichte begann mit seinem eigenen, keuchendem Atem. Er spürte, wie sich seine Lunge bei jedem seiner langen Schritte mit frischer Luft vollsog und die verbrauchte hinaus katapultierte. Die Landschaft um ihn herum zog an ihm vorbei, er spürte den Untergrund, von dem er sich bei jedem Schritt abstieß. Er rannte. Er spürte die Schweißtropfen, die ihm über die Stirn und den Rücken liefen und stellte sich das Bild seines erschöpften Selbst von außen vor. Genau diese Erschöpfung war es, die ihn ein Bein vor das andere setzen ließ. Wegen dem von Schweiß getränkten Haar, dem Shirt, das an seinem Körper klebte und wegen der roten Wangen, die die Hitze seines Körpers erahnen ließen, nahm er diese Qual des Rennens auf sich. Er rannte, um genau diese Art der Erschöpfung zu bekämpfen, um sich selbst leiden zu sehen und um seinem Körper eine Lehre zu erteilen. Es war ein Kampf gegen jeden Muskel in seinem Körper, gegen jede Sehne, die sich im Rhythmus dehnte und entspannte. Er sog die frische Luft des Tages in sich auf und spürte die Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Um ihn herum wurde der Weg durch ein dichtes Farbenspiel verschiedener Grüntöne begrenzt. Wie eine Schlange wand sich der Pfad durch die Farbpalette des Waldes und bot ihm die Möglichkeit, sich inmitten all diesen Dickichts frei zu bewegen. Der Pfad führte über Wurzeln hinweg, wich ehrwürdigen Eichen aus und wand sich zwischen Büschen hindurch, die ihre Zweige bedrohlich weit zum Weg hin reckten. Hin und wieder peitschte er diese Äste mit einer Handbewegung von sich fort, machte den Weg frei für seinen massigen Körper, der von den Beinen getragen nur so dahinflog. In diesem Moment gab es nichts anderes als sein eigenes Atmen, das Gefühl der Anstrengung und des Schmerzes und das wilde Grün der ihn umgebenden Natur. Es war jedoch nicht nur sein Körper, gegen den er kämpfte. Der Gegner war vielmehr sein gesamtes Selbst, es war die leise Stimme in seinem Kopf, die bei jedem Schritt aufstöhnte und ihm den Schmerz seines Köpers überhaupt erst vermittelte. Es war diese Stimme gegen die sich all seine Anstrengung nun richtete. Die Stimme des Versagens, die sich wie eine Krankheit in seinem Kopf auszubreiten versuchte. Die nach und nach jede Zelle seines Gehirns infizierte und bei jedem Schritt seine strapazierten Muskeln bemitleidete. Es war diese Stimme, die ihm einredete, dass er aufhören konnte, dass er alles geschafft hätte, wozu er im Moment fähig war. Es war sein eigener Verstand, der ihm seine eigene Kraft ausreden wollte und ihn damit in eine perfide Falle lockte.
Während er über mehrere Wurzeln hinweg sprang, konzentrierte er sich wieder auf seine Atmung. Die regelmäßigen Atemzüge waren der Fels in der Brandung seines eigenen Verstandes. Der Rhythmus seiner Lunge brachte Kontrolle in das Chaos seiner Gedanken und gab ihm den notwendigen Halt, um weiterhin ein Bein vor das andere zu setzen. Er fokussierte sich auf diesen Atem, spürte, wie er die Luft in seinen Mund hineinsog, wie sie durch seinen Hals nach unten glitt und sich in seiner Lunge entfaltete, um sein Blut in Sauerstoff zu tränken. Er nahm wahr, wie sich die Luft in seiner Lunge entlud und wie sie im selben Augenblick schon wieder hinausgepresst wurde. Die Regelmäßigkeit seiner Atemzüge und die Mechanik seiner Beine gaben ihm ein Gefühl der Kontrolle. Es waren Maschinen, die der chaotischen Welt um ihn herum mit vollkommener Regelmäßigkeit trotzten. Sein ganzer Körper war eine Maschine, die von ihm kontrolliert wurde und die nun in absoluter Disziplin seine Befehle ausführte. Hydraulisch bewegten sich seine Beine vor und zurück, wie von Kolben getrieben, pressten seine Lungenflügel die Luft aus ihm heraus und sogen sie im nächsten Augenblick wieder ein. Wie mechanische Klappen regelten seine Schweißdrüsen die Temperatur der Maschine und gaben die überflüssige Hitze durch salzige Wassertropfen ab, die sich nun an seiner Stirn sammelten. Für einen kurzen Augenblick fühlte er sich vollkommen. Er vergaß die Strapazen, die er bis zu diesem Punkt auf sich genommen hatte, vergaß überhaupt alle schmerzlichen Erinnerungen seiner Vergangenheit. Der Stress des Alltags verschwand hinter einem Gefühl der Zufriedenheit, einem Vorhang aus Zufriedenheit und Wohlsein. Wie ein heroischer Sieger auf dem Schlachtfeld befahl er seinem Körper jeden einzelnen Schritt, zwang sich selbst weiterzumachen. Die störenden Stimmen in seinem Kopf ertränkte er in einer Flut von Disziplin und Kraft. Seine Wahrnehmung wurde ebenfalls schärfer. Es war, als ob alle fehlerhaften Eigenschaften seines Selbst sich auf einmal verflüchtigten. Die Grüntöne des Unterholz wurden intensiver, die Sonnenstrahlen auf seiner Haut wurden wärmer und er spürte jede Unebenheit, die er mit seinen Schritten wie mit einem Schmiedehammer in den Boden stampfte. Dieses Gefühl war es, nach dem er strebte. Das Gefühl von maschineller Perfektion, von der Erlösung aller biologischen Anfälligkeiten. Seine Vergangenheit schien sich ganz und gar auf den jetzigen Moment zu beziehen. Die ganze Welt drehte sich in diesem Moment nur um ihn, um die Kraft, die sich in jedem seiner Muskeln ausbreitete, um die Energie, die rasend schnell durch seinen Körper schoss.
Gerade als er dachte, er hätte gesiegt, setzte die leise Stimme in seinem Kopf jedoch wieder ein. Sie war wie ein Dolchstoß in einem unvorsichtigen Moment. Eine Spitze, die sich von seinem Kopf ausgehend durch seinen Körper bohrte und alles in ihm erschlaffen ließ. Das Hochgefühl, das Erahnen der Vollkommenheit, verschwand im Kampfgeschehen mit dieser wieder auferstehenden Kraft, die sich aus den Tiefen seines Verstandes erhob und sich wie so viele Male zuvor in seinem Körper breitmachte. Der maschinelle Kreislauf seines Körpers geriet ins Wanken. Seine Schritte wurden unsicher und seine Lunge begann zu brennen und zu stechen. Er spürte seine Grenzen, die Müdigkeit in seinen Knochen, die eine sofortige Aufgabe von ihm forderte. Er bekam keine Luft mehr, der Sauerstoff schien nicht mehr in seiner Lunge anzukommen, er fühlte sich benommen und schwach. Er wollte stehen bleiben, der Übermacht seiner eigenen Schwachheit nachgeben und sich auf den Boden fallen lassen. Doch gerade diese Momente waren es, auf die er sich die ganze Zeit vorbereitete. Er wusste, dass diese Momente entscheidend für das Erreichen seines Ziels waren. Kurz bevor die Flut des Schmerzes ihn mit sich riss, sammelte er seine Gedanken und konzentrierte sie auf einen Punkt. Er starrte nach vorne, ignorierte alle Bedürfnisse seines Selbst und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder ganz und gar auf seine Lunge. Sein Herz pochte, er keuchte und seine Schritte waren ungenau und unregelmäßig. Aber all diese Anfälligkeiten verschwanden nun hinter dem Fokus auf die Luft, die durch seinen Mund und seinen Hals bis in seine Lunge strömte, sich dort entfaltete und dann auf dem gleichen Weg wieder hinaus gepumpt wurde. Es war dieser Kreislauf, auf den er sich konzentrierte und der ihm nun neuen Halt gab. Immer wieder war es dieser Luftstrom, der eine Gesetzmäßigkeit inmitten des Chaos darstellte und der ihn in Situationen wie diesen immer wieder rettete. Er brachte seine Atmung wieder in geregelte Bahnen, führte den automatischen Ablauf wieder ein, den er zuvor so genossen hatte. Immer wenn der Schmerz und die Erschöpfung seines restlichen Körpers zu ihm durchzudringen drohten, schnürte er das Bündel seiner Gedanken noch enger um diesen Vorgang des Ein- und Ausatmens. Er ignorierte die Umgebung um ihn herum, vergaß die Sonnenstrahlen auf seiner Haut und das Grün des Waldes. Erst als seine Atmung wieder wie eine Dampflok von selbst funktionierte und anfing, ihn anzutreiben, ließ er von ihr ab und erlaubte der Flut des Schmerzes in seinen Verstand einzudringen. Sie überrollte ihn und brachte ihn fast zum Stürzen, doch die Regelmäßigkeit seiner Atmung gaben ihm noch immer Halt. Nach und nach schaltete er sich durch seinen Körper, aktivierte alle noch vorhandenen Kraftressourcen und überzeugte sich selbst, dass er noch viel mehr konnte als das. Es war nicht sein Körper, der keine Kraft mehr besaß. Es waren die leisen Stimmen in seinem Kopf, die ihn von einer imaginären Kraftlosigkeit überzeugen wollten. Seine eigenen Gedanken wollten ihn vor sich selbst täuschen und ihn zum Aufgeben zwingen. Sie waren seine Feinde, die er nun einen nach dem anderen eliminierte. Nach kurzer Zeit hatte er wieder die Oberhand. Er führte einen ständigen Kampf, befand sich in einer immerwährenden Oszillation, die ihn nun für kurze Zeit nach oben trieb. Während er weiterhin seine letzten Kräfte mobilisierte, spürte er, wie er wieder zur Maschine wurde. Dieses Gefühl, alle Schmerzen und das Versagen besiegt zu haben, waren die vorherigen Strapazen ein für alle Mal wert. Für eine längere Zeit genoss er wieder das Gefühl der Freiheit und der vollständigen Kontrolle über seinen Körper. Wieder hatte er das Gefühl, nun endgültig gesiegt zu haben und unangreifbar zu sein. Doch gerade als er die Spitze der Oszillation erreichte, erhoben sich seine Schmerzen wieder aus der Asche des vergangenen Kampfes. Die Stimmen in seinem Kopf tauchten wieder auf und schwollen an, der Kreislauf begann von Neuem. Er musste grinsen. Was immer er auch fühlte oder wahrnahm, alles um ihn herum wiederholte sich. Es waren ineinander versenkte Zahnräder, die eine Runde nach der nächsten drehten und sich aber nie voneinander lösen würden. Er selbst drehte sich mit diesen Zahnrädern mit und trieb sie eigenständig an. Nun, da die nächste Umdrehung anstand, wusste er was zu tun war. Während die Stimmen in seinem Kopf anschwollen und der Schmerz und die Erschöpfung seines Körpers beinahe unerträglich wurden, zog er sich in sein Inneres zurück und lauschte der Luft, die sich in seinem Körper hin und herbewegte. Genau dieses Auf und Ab war es, warum er lebte. Diese nie endenden Kreisläufe und Oszillationen waren es, die ihn am Leben hielten. Die ständigen Kämpfe, Verluste und Siege machten ihn aus, definierten seine Persönlichkeit. Das Gefühl des Schmerzes und der Vollkommenheit verschwand hinter dem Gefühl zu leben. Er schloss die Augen und verlangsamte seine Schritte. Langsam gehend genoss er jedes Gefühl seines Körpers und wusste, dass er diesen Moment nie wieder würde wahrnehmen können.