An empty room

Bild von Denny Müller.

Das leere Zimmer

Ihre Geschichte begann mit dem Drehen des Schlüssels. Sie stieß die Tür auf, schaltete das Licht an und legte ihren Rucksack und die Beutel mit einem zufriedenen Seufzen auf den Boden. Es sah alles so aus, wie sie es vor ein paar Wochen zurückgelassen hatte. Sie öffnete ein Fenster und atmete die frische Abendluft tief ein. Ihr Blick glitt über die Stadt, die sich mit zahlreichen Lichtern gegen die hereinbrechende Nacht wehrte. Hinter der Stadt konnte sie die dunkle Bergkette erkennen, die den Wolkenkratzern einen mystischen Hintergrund gab. Möwen kreisten ruhig am Himmel und gaben der Szenerie zusätzlich noch ein idyllisches Aussehen. Es war ein schöner Urlaub gewesen. Sie war zusammen mit Freunden verreist und hatte in den letzten Wochen einige Abenteuer erlebt. Es war eine gute Gruppe, die Atmosphäre war stets lustig und wohlwollend, sie hatten die gleichen Interessen gehabt und konnten sich deshalb auch für die gleichen Unternehmungen begeistern. Abends waren sie immer zusammen gesessen, hatten gespielt und gelacht oder einfach bis spät in die Nacht geredet. Nun war der Urlaub zu Ende, sie hatten sich wieder getrennt und jeder war nach Hause gegangen mit dem festen Vorsatz, eine solche Unternehmung im nächsten Jahr zu wiederholen. Sie stand noch eine Weile am Fenster und erinnerte sich mit einem wohligen Gefühl im Bauch an die vergangenen Erlebnisse. Mit einem früheren Schulfreund hatte sie sogar sehr persönliche Gespräche geführt, was sie in Zukunft bei einem gemeinsamen Essen wiederholen wollten. Jetzt hatte aber jeder viel zu tun, das, was im Urlaub verpasst wurde, musste wieder aufgeholt werden. Das wohlige Gefühl in ihrem Bauch wurde kurz durch den Gedanken an ihre Arbeit aufgewirbelt. Sie dachte an die vor sich liegenden Aufgaben und dachte an ihre zahlreichen Verantwortungen. Sie erinnerte sich an das Gefühl, dem sie durch den Urlaub hatte entkommen wollen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit, das Gefühl in einer Abwärtsspirale zu stecken, die allein ihr Problem war. Sie spürte eine regelrechte Angst vor den bevorstehenden Arbeitsaufgaben, konnte jedoch nicht einmal sagen, warum sie diese Angst hatte. Gerade als sie in Gefahr stand, in ihrem eigenen Gedanken- und Angstsumpf zu versinken, brachte sie das Dröhnen eines entfernten Frachtschiffs wieder zurück in die Gegenwart. Sie atmete ein weiteres Mal tief ein und aus und spürte, wie das wohlige Nachklingen des Urlaubs in sie zurückkehrte. Gerade als ihre Gedanken wieder abschweiften, meldete sich ihr Bauch mit einem lauten Grummeln. Sie hatte an diesem Tag noch nicht viel gegessen und nun hatte sie Hunger. Auf dem Weg nach Hause hatte sie beim Bäcker noch schnell eingekauft, um genau diesem Problem vorzubeugen. Mit einem letzten Blick auf die entfernten Berge spürte sie noch einmal die angenehmen Erinnerungen an die vergangenen Tage, schloss die Augen und suhlte sich innerlich in einem Gefühl, das sie Glück nannte. Plötzlich fühlte sie sich stark und blickte der herausfordernden Zukunft mit Kampflust und etwas Stolz entgegen. Die Gedanken an die Gemeinschaft mit ihren Freunden machten ihr Mut und dieser Mut gab ihr wiederum Kraft. Mit einem letzten Einsaugen der frischen Abendluft riss sie sich vom Fenster los.

Gerade als ihr Blick das leere Zimmer streifte, spürte sie den Stich, den sie gefürchtet hatte und die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte. Es war ein Stich oder besser ein Blitz, der sie direkt in die Magengrube traf und durch den sich alles in ihr zusammenzog. Der gerade noch verspürte Mut wurde innerhalb von Sekunden von dem mächtigen inneren Sturm ihrer Gefühle verschlungen. Sie hatte die Augen sofort geschlossen, doch das Bild des leeren Zimmers hatte sich wie feuriges Eisen in ihr eingebrannt und schnürte ihr den Hals zu. Das wohlige Gefühl, das sie wenige Sekunden zuvor noch verspürt hatte, sammelte sich nun als ein Kloß in ihrem Hals, der ihr das Atmen schwer machte. Bevor sie überhaupt definieren konnte, was sie genau fühlte, schossen ihr Tränen in die Augen und sie fühlte sie wie im freien Fall. Die Bilder der vergangenen Tage schossen ihr durch den Kopf und vermischten sich gleichzeitig mit dem Anblick ihres Zimmers. Sie meinte die Stimmen ihrer Freunde zu hören, die jetzt inmitten der fast vollkommenen Stille ihres Zimmers fast schon befremdlich wirkten. Während diese Eindrücke vor ihrem inneren Auge vorbeizogen, breitete sich in ihr eine kalte Erkenntnis aus. Wie flüssiger Beton füllte diese Erkenntnis jeden Winkel ihres Körpers und bettete all ihre Gefühle und Gedanken in ein immer härter werdendes Fundament aus Unbarmherzigkeit. Die Zeit, an die sie sich zu klammern versucht hatte, war vorbei. Stattdessen war sie wieder in dem Leben gelandet, in dem sie die Grausamkeit dieser Welt allein ertragen musste und in dem die angenehm verbrachten letzten Tage gar nicht hineinpassten. Sie war in ihrer eigenen Welt, war der Wonne der Gemeinschaft entkommen und stellte sich nun wieder ihrer eigenen Verantwortung. Sie konnte nicht einmal sagen, dass sie den vergangenen Tagen hinterhertrauerte oder sich nicht auf die kommende Zeit freute. Es war nur die schlichte Erkenntnis, dass ihr Leben nicht aus dem bestand, mit dem sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte. Es bestand nicht aus unbekümmerten Debatten über belanglose Ereignisse. Es hatte keinen Platz für angenehme Ausflüge und zahlreiche Filmabende. Platz hatte es vielleicht schon, aber sie wollte diesen Aktivitäten gar keinen Platz geben. Sie wusste, dass sie ihr Leben genau so wollte, wie sie es in den nächsten Tagen verbringen würde und dass das für sie genau das Richtige war. Nur der Übergang von der unbekümmerten Welt der Gemeinschaft in die herausfordernde und kampfreiche Welt ihres eigenen Selbst machten ihr in diesem Moment wieder zu schaffen. Der Kontrast zu dem, wie sie ihr Leben hätte verbringen können, führte ihr ihre eigene Art des Lebens höhnisch vor Augen. Dieser Kontrast zwischen dem angenehmen, sorglosen Leben und diesem Zimmer, in dem ihr wahres Leben Tag für Tag stattfand, riss eine tiefe Furche in ihre Gefühlslandschaft. Nach einem kurzen Moment der Unsicherheit musste sie fast über sich selbst lachen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und merkte, wie sich ihr Mund zu einem belustigten Lächeln verzog. Das Lächeln entsprang nun nicht mehr der Erinnerung an die letzten Tage. Vielmehr entstand es durch den Gedanken, was alles in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde und wie sie sich davor fürchtete. Doch wenn sie genau in sich hineinhörte, konnte sie gar keine Furcht erkennen. Es war eher eine Akzeptanz, die sich in ihrem Unterbewusstsein breitmachte und die kommenden Aufgaben und Herausforderungen ohne Wertung entgegennahm. Die Gleichgültigkeit, die sie tief in sich spürte, ruhte auf dem Fundament ihrer eigenen Persönlichkeit, sie wusste, dass die kommenden Aufgaben, so schwer diese auch sein würden, ihr nichts anhaben konnten. Sie spürte, dass sie selbst der Fels in der Brandung war, den sie sich so oft durch jemanden anderen wünschte. Sie merkte wieder, dass sie sich auf sich selbst verlassen konnte. Diese Erkenntnis drang nun von unten durch die kurz zuvor entstandene Furche ihrer Gefühlswelt nach oben und schloss diese mit neuem, starken und zähen Material. Sie reckte sich und dehnte ihren Hals. Wieder drehte sie sich zum Fenster und zu der glitzernden Stadt in der Ferne. Ihr Hungergefühl hatte sich angesichts ihrer neuen inneren Ruhe verflüchtigt und konnte sie nicht mehr beeinflussen. Alles, was sie jetzt noch spürte, war diese Gleichgültigkeit gegenüber allen Herausforderungen und die Sicherheit ihres eigenen Selbst. Genau wie sich die Lichter der Stadt an die mächtigen Berge dahinter schmiegten, suhlte sich ihr Geist nun in der Gewissheit, unangreifbar zu sein. Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf der Szenerie, dann spürte sie den sanften Stoß ihres Unterbewusstseins und wandte sich ab. Sie war wieder die Alte. Der Urlaub und ihre Flucht in das einfache Leben waren vergessen, nur die Energie, die sie durch den Kontrast zwischen diesem und ihrem eigenen Leben bekommen hatte, befeuerte nun ihre Bewegungen. Sie wusste, was zu tun war und ging, wie aus einem langen Traum erwachend, wieder an die Arbeit.