Bild von Chirag K.
Das Erwachen
Seine Geschichte begann mit seiner ganz persönlichen Meinung. Die Gesichter der anderen waren auf ihn fokussiert, sie lauschten aufmerksam und interessiert. Er war gerade dabei, seine Ansichten zu aktuellen politischen Vorkommnissen darzulegen und hatte die ganze Zeit voll Ungeduld auf diesen Moment gewartet. Die Diskussion hatte sich nun schon länger hingezogen, bisher war er allerdings nie richtig zu Wort gekommen, hatte immer wieder auf das Ende des Redeschwalls anderer warten müssen. Nun aber war er an der Reihe und hatte endlich die Möglichkeit, seine Erklärungen im Detail vor den anderen auszulegen. Natürlich war er von seiner eigenen Meinung überzeugt. Die Ausführungen der anderen ergaben seiner Meinung nach keinen Sinn, statt ihnen richtig zu folgen hatte er die ganze Zeit gedanklich seine eigenen Ideen vorbereitet, um sie nun endlich vortragen zu können. Er wurde von niemandem unterbrochen und hatte mit freudiger Energie angefangen, sich zu erklären. Es hatte ihn sogar jemand nach seiner Meinung gefragt. Diese Art der Hilfestellung hatte er sich gar nicht erhofft, er wäre bereit gewesen, von sich selbst aus zu reden, aus Überzeugung, dass die anderen ohne die Erläuterung seiner Meinung etwas Wichtiges verpassen würden. Die ganze Zeit, während die anderen redeten, wartete er auf den richtigen Augenblick, um ihre Ausführungen zu unterbrechen und durch seine eigenen zu korrigieren. Voller Eifer hatte er sich ausgemalt, wie sie wohl auf seine Ideen reagieren würden und die interessierten Gesichter, die sich ihm nun zuwandten, gaben ihm von Anfang an den nötigen Rückhalt, um weiterzureden. Sie schienen geradezu auf jedes Wort von ihm zu warten, wollten allesamt gespannt wissen, wie er die aktuellen Geschehnisse interpretierte und waren sichtbar überwältigt von der Tiefe und Detailliertheit seiner Ausführungen. Mit diesem Gefühl der Bestätigung verschwendete er keinen Augenblick mehr darauf auf ihre Gesichter zu achten, sondern fing stattdessen an, seine Ideen durch Gesten und Betonungen noch glaubhafter zu machen. Er steigerte sich selbst so in seine Ausführungen hinein, dass sogar er überrascht war, wie er überhaupt auf solche fundierten Ideen gekommen war. Nach seinem eigenen anfänglichen Redeschwall und dem Moment der Begeisterung klarte sich sein Blick jedoch etwas auf. Noch während er redete, wanderten seine Gedanken auf eine Meta-Ebene, die außerhalb von ihm zu liegen schien und das stattfindende Gespräch aus einem seltsamen, objektiven Winkel betrachtete. Genau hier überkam ihn ein Schauder der Erkenntnis und er erkannte mit einem Mal, dass er wie schon so oft zuvor wieder in seine eigene Falle geraten war. Er hatte sich wie immer von seiner eigenen Hybris verführen lassen und spürte nun den Schauder der Peinlichkeit und eine gewisse Art von Ekel vor sich selbst. Das Erste, was er auf dieser Position außerhalb seines Selbst wahrnahm, waren die Gesichter der anderen. Die gespannten Gesichter, die ihn anfangs mit ihrer Begeisterung ansteckten und ihm die Sicherheit gaben, seine Ideen bis ins noch so kleinste Detail darzulegen, zeigten in Wirklichkeit dieselbe Ausdruckslosigkeit, die sie schon bei jeder der vorherigen Ausführungen von anderen Personen gezeigt hatten. Fast schien es, als wäre jeder in die eigene Gedankenwelt versunken und seiner Erfahrung nach war er sich fast sicher, dass jeder dabei war, die eigenen Ideen zu ordnen, um sie bei der nächsten Möglichkeit voller Eifer vorzutragen. Keiner der Anwesenden nahm tatsächlich wahr, was oder wie er es sagte. Jeder hatte eine Barriere vor sich aufgebaut, eine Barriere der Unaufmerksamkeit an der jedes Wort, das er selbst voller Begeisterung aussprach, nur dumpf dagegen schlug und dann im Nichts verschwand. Keiner wartete gespannt auf seine nächsten Sätze, stattdessen warteten alle voller Gier auf seine nächste Pause, in der sie ihn notfalls unterbrechen würden, um ihren eigenen Ideen Vorrang zu bieten. Nur der ihnen seit jeher antrainierte Anstand, auf den die Gesellschaft so viel Wert legte, verbot es ihnen, ihn schon jetzt energisch zu unterbrechen. Würde er jedoch noch viel länger fortfahren so würde auch diese letzte Bastille des Anstands der Gier nach Aufmerksamkeit zu Füßen fallen. Er hörte sich immer noch selbst reden, sah wie seine Hände das Gesagte noch immer mit deutlichen Gesten unterstützen. Doch seine Worte erschienen im nun leer, ihre Tiefe war für immer verloren. Statt Erzeugnissen seines eigenen Ideenreichtums waren sie erbärmliche Funktionen der Meinung anderer um ihn herum. Alles, was er sagte, war an die Zuhörer angepasst, war darauf optimiert, ihnen die größtmögliche Anerkennung zu entlocken. Er spürte, wie er mit wachsendem Ekel vor sich selbst in seinen Körper zurückgezogen wurde und die Szenerie nun wieder mit seinen eigenen Augen betrachtete. Sofort geriet sein Redeschwall ins Stocken. Mitten in einer ausschweifenden Geste brach er seinen Satz ab, ließ die Hand sinken und starrte ausgelaugt in die Ferne. Mit einem Mal hatte er die Aufmerksamkeit aller Zuhörer. Ihre Pause war gekommen, nun lag es an ihnen, diese möglichst schnell mit ihren eigenen Worten zu füllen. Problematisch war nur, wie man an seinen letzten Satz anknüpfen sollte, niemand wusste so recht, worüber er eigentlich gesprochen hatte, seine Ideen hatten sie nur am Rande ihrer Wahrnehmung gehört, gerade so viel, um einigermaßen sinnvoll ihren ersten Satz beginnen zu können. Während er sich von dem Schock seiner Erkenntnis erholte, legten seine ehemaligen Zuhörer los und nahmen das Zepter des Redeschwalls an sich. Auch er war nun nicht in der Lage, ihnen zuzuhören. Im Gegensatz zu den anderen dachte er jedoch nicht an seine nächsten Ausführungen, sondern versuchte mit dem überwältigenden Gefühl der Peinlichkeit und des Versagens klarzukommen. Er fühlte sich, als ob er seine eigene Persönlichkeit verraten hätte. Er hatte seine ursprünglichen Ideen an seine Umgebung angepasst, hatte Teile seines Selbst aufgegeben, um vor anderen möglichst gut zu erscheinen. Natürlich hatte er das nicht zum ersten Mal gemacht, in letzter Zeit wurde er immer geübter darin diese Momente möglichst schnell zu erkennen. Sie hatten ihn immer öfter schockiert und er hatte sich selbst zum Ziel gesetzt sie möglichst bald vollständig zu unterbinden. Er würde seine Ideen nicht an die Gesellschaft oder seine Zuhörer anpassen. Die Ideen waren sein Eigentum, der Output der Struktur seines einzigartigen Denkens. Nichts auf der Welt war es wert diese Ideen verfälschen zu müssen. Er war sich natürlich bewusst, dass sein Denken Verbesserungspotential aufwies. Ratschläge und Hinweise von Anderen waren immer noch sehr erwünscht, er war in keiner Weise von der Allgemeingültigkeit oder der Korrektheit seiner Gedanken überzeugt. Ihm ging es viel mehr darum, seine eigene Entwicklung vor anderen Leuten offen zu legen und diese nicht wie so viele Male in der Vergangenheit im Sumpf der Gleichgültigkeit zu ertränken. Er wollte seinen Ideen Raum geben zum Atmen und Leben, wollte sie mithilfe der anderen wachsen sehen und wollte seine Entwicklung mit den anderen teilen. Genauso war er an der Entwicklung der anderen interessiert, wollte ihre ganz persönlichen Gedanken hören und wollte sie dazu ermutigen, ihre Persönlichkeit ganz offen zu legen. Was er jedoch nicht wollte, waren Unterhaltungen wie die von gerade eben, bei denen es nicht darum ging die eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln, sondern vielmehr darum, diese an die Meinung des Kollektivs, der Gesellschaft anzupassen. Für ihn selbst geschah dies meist aus der Angst vor Ablehnung, aus der Angst anders zu sein als die anderen. Genau die Eigenschaft, die ihn für alle anderen interessant gemacht hätte, von der sie alle gegenseitig hätten profitieren können, wurde von einer Angst überschattet, die alle Versuche in diese Richtung meist unterband. Gegen diese Angst wollte er nun mit aller Härte vorgehen. Er würde sich sein Leben nicht von der Gesellschaft diktieren lassen, er war mehr wert als das, was die Gesellschaft ihm vorschrieb. Er verspürte eine Welle von Mut, eine Gleichgültigkeit bezüglich des anders seins und eine Art Glück die ihn aus einem Kern tief in ihm selbst nach außen wärmte. Er lächelte zufrieden, entspannte sich und fing an, dem aktuellen Redner aufmerksam zuzuhören. Er nahm nicht wahr, wie ihn die anderen nun interessiert beobachteten und eine Art Glühen in ihm entdeckten, das sie in ihrer Umgebung nur selten erfuhren. Er nahm ihre inneren Kämpfe nicht wahr, bei denen sie genau wie er einen Krieg gegen die Gleichgültigkeit der Welt führten und sich nichts sehnlicher wünschten, als das bei ihm entdeckte Glühen auch bei sich selbst zu verspüren. Alles was für ihn nun zählte, waren pure Aufmerksamkeit und gegenseitige Wertschätzung. Er würde sich und seine Umgebung von dem Joch der Angst und Unsicherheit befreien. Mit tiefer Genugtuung und Zuversicht lauschte er dem aktuellen Redner und ging an die Arbeit.