An eagle

Bild von Birger Strahl

Das Ende der Reise

Ihre Geschichte begann mit laut läutenden Glocken. Es war ein strahlender Tag, die Sonne war schon seit einigen Stunden am Himmel und brannte mit unerbittlicher Kraft auf sie herab. Gerade hatte sie einen weiteren Eintrag in ihrem Logbuch verfasst, es war der Tag Nummer 71, sie waren nun schon seit mehr als zwei Monaten unterwegs. Und nun gab der Mann im Ausguck Alarm, ein Glockenläuten, das nur eines bedeuten konnte: Er hatte Land gesichtet. Sie stand an der Reling, die warme Kraft der Sonne durchdrang ihre vom Meersalz porös gewordene Haut. Das Sonnenlicht kam in Mischung mit einem kühlen Wind, der ihr durch die Haare fuhr und eine willkommene Abwechslung zur brennenden Sonne bot. Das Glockenläuten verstummte langsam und die zahlreichen Seeleute an Bord liefen aufgeregt umher und gingen an die Arbeit. Sie versuchte am Horizont etwas zu entdecken, aber bis jetzt sah sie nichts anderes als die übliche Wüste des Meeres, die sie nun schon seit Wochen lieben und hassen gelernt hatte. Das Läuten der Glocken war eine Befreiung, lange hatte sie diesem Moment entgegengefiebert, hatte davon geträumt, wie es wäre, endlich dieses helle Klirren zu vernehmen. Sie hatte genug Zeit auf See verbracht, um eine etwas längere Abwechslung auf Land gut vertragen zu können. Sie freute sich darauf, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, andere Gesichter zu sehen und endlich wieder anderes Essen zu sich zu nehmen. Sie freute sich darauf, diese vor ihr liegenden unbekannten Gefilde zu erforschen und zu entdecken, neue Erfahrungen zu machen und von den Menschen hier zu lernen. Sie freute sich darauf, ein neues Leben anzufangen, losgelöst von ihrer Vergangenheit und ihrer bisherigen Geschichte. Sie war glücklich über die Chance, ihre Fehler wieder gut zu machen, auf einem weißen Blatt Papier ihre Geschichte ganz neu definieren zu können. Diesmal würde sie es nicht vermasseln. Sie hatte alles vorbereitet, hatte Jahre lang für diese kommende Zeit geplant und war guten Mutes, dass sie allen zukünftigen Schwierigkeiten trotzen würde. Das Klirren der Glocken wurde abgelöst von kreischenden Möwen, ein weiteres Zeichen des nahenden Festlands. Die Vögel umkreisten das Schiff hoch oben in der Luft, spielten mit den Wogen des Winds und ließen sich von deren Kraft hin und her treiben. Sie atmete tief ein und aus und beobachtete die Seeleute, die das Schiff auf das nahende Anlanden vorbereiteten. Wie Ameisen liefen sie in scheinbar wilden Mustern über das Schiff und doch hatte jeder eine ganz spezifische Aufgabe. Jeder wusste, was zu tun ist, jeder hatte seine gewohnte Tätigkeit, eine Routine, die in den letzten Wochen ihr Leben mehr oder weniger definiert hatte.

Sie würden ankommen. Nach so vielen Wochen würde ihre Reise hier endlich ein Ende nehmen, das Unterwegssein würde aufhören und stattdessen würde sie ihr lang ersehntes Ziel erreichen. Doch in ihre freudige Anspannung mischte sich nun auch ein anderes Gefühl. Ein Gemisch aus Unsicherheit und leichter Angst machte sich breit. Sie hatte sich an das Leben auf dem Schiff gewöhnt. Nun würde sich wieder alles ändern, sie müsste sich auf ein völlig neues Leben einstellen und sich neuen Herausforderungen stellen. Das Leben auf dem Schiff war einfach gewesen, es war ein beruhigendes Dasein ohne viele Aufgaben oder Probleme. Es waren die täglichen Routinen, die ihr Sicherheit gegeben hatten. Nun verkündeten die Glocken die Aufhebung dieser Routinen und den Wiederbeginn des Chaos der normalen Welt, dem sie sich nun für so lange Zeit erfolgreich entzogen hatte. Sie musste tief Schlucken, die freudige Erwartung wurde mehr und mehr von dieser trübseligen Erkenntnis verdrängt, dass ihre Reise hier tatsächlich ein Ende nahm. Das Unterwegssein war ein Schutz gewesen. Ein Schutz gegen die Sorgen dieser Welt, gegen die Probleme, denen man im Alltag dauernd begegnete und gegen die Ängste und Herausforderungen, denen man nur so selten gewachsen war. Das Reisen blies alle diese Probleme hinweg, das salzige Meerwasser hatte sie rein gewaschen von allen Sorgen, der kühle Wind hatte alle ihre Ängste hinweggeblasen. Das Reisen ermöglichte ihr einen routinierten Alltag, es gab keine Überraschungen, keine unvorhergesehenen Ereignisse. Die letzten Wochen auf dem Schiff waren hart, aber es war trotzdem ein sorgenfreies Leben. Es war eine Zeit der Zurückhaltung, man konnte immer nur das gleiche Essen zu sich nehmen, sah immer die gleichen Gesichter und hatte immer nur die weite Wüste des Meeres vor sich. Und doch hatte genau diese Gleichartigkeit alle Sorgen von ihr genommen. Sie war der Schutzmantel gegen die Grausamkeit dieser Welt, den die Glocken nun ein für alle Mal von ihr genommen hatten. Die Sorgen des alltäglichen Lebens kehrten nun mit voller Wucht wieder zu ihr zurück. Es war ein Schlag in die Magengegend, der eine überraschende Übelkeit in ihr auslöste. Angesichts der auf sie zukommenden Herausforderungen fühlte sie sich auf einmal sehr klein und schwach. Sie war diesen Problemen doch sicherlich nicht gewachsen, sie brauchte mehr Zeit! Am liebsten hätte sie das Schiff zur Umkehr bewegt. Am liebsten wäre sie bis in alle Ewigkeit auf diesem Schiff verblieben. Sie wollte für immer reisen und nie ankommen. Das Unterwegssein war der Schutz vor Versagen, Angst und Spott. Sobald man aber irgendwo anlegte, musste man sich all diesen Dingen wieder stellen, wozu sollte man also überhaupt ankommen? Warum konnte man aus diesem trüben Leben nicht eine farbenfrohe Reise machen, die niemals endete? Alle Strapazen der letzten Wochen waren vollkommen aus ihrer Erinnerung gelöscht. Die vergangene Zeit auf dem Schiff war die Schönste ihres Lebens gewesen, das schlechte Essen und die immer gleichen Gesichter waren einem Idealbild des Lebens gewichen, das eine Schutzmauer zwischen ihr und den Sorgen der realen Welt aufzog. Ihr Blick fiel wieder auf die Möwen, die sich vom Wind treiben ließen. Diese Tiere hatten es geschafft. Sie waren die ganze Zeit unterwegs, der Wind bestimmte ihr Leben und trug sie immer weiter hinweg von ihren Sorgen und hinweg von allen Problemen. Sie wollte ein Vogel werden, der immerfort über das Meer flog und sich niemals irgendwo niederließ.

Am Horizont konnte sie nun den Schatten des Festlands entdecken. Doch die freudige Erwartung war einer Art Panik gewichen, die diesem Schatten ein rein bedrohliches Aussehen verlieh. Es war kein Paradies, sie würde dort kein neues Leben beginnen, wie sie es sich so lange Zeit erhofft hatte. Stattdessen würde sie mit den gleichen Problemen kämpfen, die sie schon immer hatte, sie würde die gleichen Sorgen haben und sich vor denselben Menschen und Ereignissen fürchten. Warum hatte sie diese Reise überhaupt angetreten? Warum hatte sie ihr altes Leben für ein neues aufgegeben, das sich in keiner Weise von dem alten unterschied? Ihre Entscheidung kam ihr wie ein Fehler vor, ein Wunschdenken, das sie in die Irre geführt hatte. Jetzt musste sie mit dieser Fehlentscheidung zurechtkommen und würde deswegen noch mehr leiden als zuvor. Ihre Hände umklammerten die Reling, als ob dieses hölzerne Material das Letzte war, was sie noch retten konnte. Das kühle Blau unter ihr sah auf einmal sehr anziehend aus, schien wie ein Ausweg aus diesem einzigen Dilemma. Ein kurzer Sprung würde vielleicht alle ihre Probleme lösen. Der Fall nach unten wäre eine unendliche Reise ins Nichts. Sie würde den Sorgen des Festlands trotzen, könnte von nichts und niemandem mehr verletzt werden. Die Wogen des Meeres erschienen ihr wie ein Portal zu einem Paradies, ein Portal zu einem endlosen, immer gleichen Zustand. Diese Chance würde sie sich nicht entgehen lassen. Es wurde still um sie herum, die Welt verschwand hinter einem verschwommenen Vorhang und einzig und allein das kalte Blau unter ihr war noch klar und deutlich sichtbar. Das war das Ziel ihrer Reise. Hier würde sie tatsächlich ein neues Leben beginnen können, frei von Sorgen und frei von allen Strapazen. Gerade begann sie über die Reling zu steigen, als die Stille der Welt durch einen klaren Schrei zerrissen wurde. Es war ein kurzer, mächtiger Laut der sie plötzlich stillstehen ließ. Es war ein Schrei, der alle Gefühle in ihr hinwegwischte und die verschwommene Welt mit einem Mal wieder scharf werden ließ. Nahe vor ihr, direkt über der Wasseroberfläche, glitt ein Adler durch die Luft. Die mächtigen Schwingen waren voll entfaltet, der Vogel raste über die Wogen des Meeres hinweg und schraubte sich dann wieder in den Himmel hinauf. Ein weiteres Mal ließ er einen markerschütternden Schrei von sich und zeigte seine atemberaubenden Flugkünste. Er trotzte dem Wind, bestimmte seine eigene Flugbahn und ließ sich von nichts und niemandem davon abbringen. Ruhig und überlegt glitt er dahin und machte genau das, was er wollte. Die Wogen des Winds stellten keine Gefahr für ihn dar, vielmehr waren sie eine willkommene Hilfe, um sein Können in voller Pracht zu zeigen. Jedes Problem, das sich ihm stellte, wurde in ein Kunstwerk verwandelt, jede überraschende Böe wurde der Auslöser eines bahnbrechenden Flugmanövers. Keine Sorgen der Welt schienen diesen Vogel von seinem Weg abzubringen. Er war ebenfalls immer auf der Reise, doch im Gegensatz zu den Möwen bestimmte er seinen Weg selbst. Der Adler setzte sein Ziel selbst, während sich die Möwen nur müde dahintreiben ließen. Und während dieser mächtige Vogel seine weiten Kreise um das Schiff herumzog, kehrte eine gespannte Erwartung in sie zurück. Ihre Panik wich einer gesunden Zuversicht, die Welt wurde wieder farbig, der Schatten des Festlands wich einem vielversprechenden und hoffnungsvollen Grün. Sie würde ein neues Leben beginnen. Sie würde sich nicht von den kommenden Herausforderungen beeindrucken lassen, vielmehr waren diese ein Werkzeug, um ihr wahres Können tatsächlich herauszustellen. Genau wie der Adler würde sie die alltäglichen Wogen des Lebens nutzen, um daraus Kunstwerke zu machen. Sie würde neue Flugmanöver finden und sie der ganzen Welt in einem atemberaubenden Spektakel zeigen. Ihr Griff um die Reling ließ etwas nach und ihre weißen, angespannten Hände füllten sich wieder mit Leben. Sie atmete tief durch und genoss die salzige Luft, die sich kraftvoll in ihrer Lunge ausbreitete. Sie spürte nun eine Abenteuerlust und fast schon ein Verlangen nach einer Herausforderung. Während sie ihre Angst gerade noch in den Wogen des Meeres versenken wollte, wurde diese nun von einem Mut abgelöst, den sie bisher noch nicht gekannt hatte. Der Adler stieß vom Himmel herab und landete nur wenige Meter von ihr entfernt. Er faltete seine mächtigen Schwingen zusammen, ordnete kurz das glänzende Federkleid und hob dann heroisch den Kopf. Seine hellen Augen musterten sie und für einen kurzen Moment schien es ihr so, als ob er sie voll und ganz verstehen würde. Mit einem Lächeln wandte sie ihren Blick auf das nahende Festland. Mit einem aufstrebenden Gefühl der Kraft wusste sie, dass sie dort am richtigen Ort war. Es wartete Arbeit auf sie.