Bild von Mitch Fox.
8) Die Nadel im Heuhaufen
Die letzten Philoskopos Teile zielten darauf ab, mehrere Fragen genauer zu untersuchen. Teil fünf hat sich damit beschäftigt, was der Ursinn eigentlich ist, Teil sechs hatte die Frage „Warum sollten wir nach dem Ursinn suchen?“ als Thema und Teil sieben hat die Frage „Wann endet die Suche nach dem Ursinn?“ genauer beleuchtet. Jetzt ist es an der Zeit eine erste Brücke zwischen dem abstrakten Konzept des Ursinns und unserem Alltag zu schlagen. Dieser Philoskopos Teil beschäftigt sich daher mit der Frage „Wie sollen wir die Suche nach dem Ursinn gestalten?“.
Die Suche nach dem Ursinn ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wir haben keinen objektiven Hinweis, wo sich die Nadel befindet und wissen streng genommen noch nicht einmal, ob der Heuhaufen überhaupt eine Nadel enthält. Wir haben jedoch die Möglichkeit, den Heuhaufen zu durchwühlen und systematisch auseinanderzunehmen, bis wir plötzlich auf die Nadel stoßen und unsere Suche damit beenden. Die Aktionen, die wir während dieses Wühlens vornehmen können sind überwältigend. Jeder Halm, der sich im Heuhaufen befindet kann bewegt werden und uns einen neuen Blick verschaffen. Wir stehen also vor einem Haufen an Möglichkeiten, bei der keine Möglichkeit besser ist als die andere. Das Einzige, was wir tun können, ist mit einer Systematik von Versuch und Irrtum vorzugehen und tatsächlich alle Möglichkeiten durchzuprobieren. Je schneller wir jeden Grashalm untersuchen, desto schneller finden wir die Nadel. Unser Ziel wäre es in diesem Fall also den Raum möglicher Aktionen so schnell wie möglich mit tatsächlichen Aktionen auszufüllen.
Die Suche nach dem Ursinn hat einen recht ähnlichen Charakter. Wir haben eine schier unendliche Menge an Aktionen, von denen wir in jeder Sekunde unseres Lebens eine wählen müssen. Wir wählen diese Aktionen basierend auf den Informationen, die von unseren Sensoren aufgenommen werden und in unserer Software zu bestimmten Verhaltensmustern umgewandelt werden. Diese Muster führen wir dann mithilfe unserer Muskeln in Form bestimmter Bewegungen aus. Egal welche Informationen unsere Sensoren erfassen, wir haben immer eine unfassbar große Menge von Aktionen, die wir als nächsten Befehl an unsere Muskeln senden könnten. Im Angesicht der fehlenden Hinweise auf den Ort, die Zeit oder die Art des Ursinns bleibt uns auch bei dieser Suche nichts anderes übrig, als jeden Grashalm einzeln umzudrehen bzw. in diesem Fall jeden Muskel einzeln anzuspannen und jede mögliche Bewegung einzeln auszuführen. Durch ein solches Versuch und Irrtum Verfahren füllen wir den möglichen Aktionsraum nach und nach mit tatsächlichen Aktionen aus. Auch hier gilt wieder: Je schneller wir den Raum füllen, desto schneller finden wir auch den Ursinn. Unser Ziel ist es also, jeden Grashalm so schnell wie möglich abzuarbeiten bzw. jede mögliche Muskelspannung und daraus folgende Bewegung möglichst schnell auszuprobieren.
Fassen wir die bisherige Argumentationskette noch einmal kurz zusammen. Wenn wir die Existenz eines Ursinns postulieren, dann ist die Suche danach ebenfalls sinnvoll. Wir haben jedoch keinen Anhaltspunkt, wie wir nach dem Ursinn suchen sollen, sondern müssen stattdessen ständig aus einem riesigen Pool von Aktionen wählen. Eine oder eine ganze Kette dieser Aktionen wird uns zu einem existierenden Ursinn führen. Je schneller wir diese Aktionen finden, desto schneller leben wir in der Gewissheit eines Sinns. Da aufgrund der fehlenden Hinweise jedoch alle Aktionen gleichwertig sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als möglichst schnell alle durchzuprobieren.
Auf unser alltägliches Leben bezogen besagen diese Argumente das Folgende. Die einzig sinnvolle Lebensweise, der wir nachgehen können, ist eine ständige Beschleunigung des Ausführens von Aktionen. Diese Beschleunigung ist jedoch von vornherein gar nicht möglich. Unsere Welt ist ständig in Bewegung und unterliegt einer fortlaufenden Dynamik, nämlich der Zeit. In jeder Zeiteinheit führen wir schon jetzt Aktionen aus. Wenn wir still sitzen, führen wir die Aktion des Stillsitzens aus, wenn wir spazieren, spannen wir unsere Beinmuskeln und wenn wir nach einem Gegenstand greifen, setzen wir unseren Arm in Bewegung. Eine Beschleunigung dieser Aktionen ist nicht möglich, da sie schon jetzt kontinuierlich stattfinden und überhaupt keinen Raum zur Beschleunigung geben. Das Fortschreiten der Zeit selbst legt uns ein Limit an ausführbaren Aktionen auf und um dieses Limit zu heben, müssten wir die Macht besitzen, die Zeit zu kontrollieren. Da alle ausführbaren Aktionen gleichwertig sind, können wir keine sinnvolle Auswahl treffen. Alle ausführbaren Aktionen haben ihre Berechtigung. Wenn wir beispielsweise in einer Simulation leben, dann könnte diese Simulation sozusagen ein Easter Egg enthalten das die Simulation stoppt, sobald wir eine völlig unsinnig erscheinende Aktion ausführen. Die Simulation könnte zum Beispiel genau dann stoppen, wenn sich fünf bestimmte Menschen an einem bestimmten Ort an der Hand nehmen, laut singend einen Stepptanz aufführen und sich dabei zehn Mal im Kreis drehen. Je nachdem wie perfide unser Universum und der dazugehörige Sinn tatsächlich ist, könnte die auszuführende Aktionskette völlig unsinnig sein. Daher haben alle Aktionen einen Mehrwert und daher können wir auch keine Auswahl an Aktionen für unsere Beschleunigung wählen.
Die Suche nach dem Ursinn läuft sozusagen also auch ohne uns ab. Wir können die Anzahl unserer Aktionen nicht beschleunigen, führen aber kontinuierlich Aktionen aus und suchen damit auch kontinuierlich nach dem Sinn. Mehr können wir nicht unternehmen. Damit kommt uns also eine eher passive Rolle zu, in der wir uns selbst bei der Suche zuschauen können. Dieser Blickwinkel wirft unter anderem die Frage auf, ob wir überhaupt eine aktive Rolle haben können? Haben wir überhaupt die Kontrolle über unsere ausführbaren Aktionen? Diese Frage streift die Diskussion um die Existenz eines freien Willens und ist das Thema des nächsten Philoskopos Abschnitts.